Ein Teenager zu sein, ist immer ein wenig peinlich. Das gilt besonders beim Mannschaftssport, unter Einsatz des eben erst neu gewachsenen Körpers und auf der Suche nach der eigenen Rolle innerhalb eines Teams, innerhalb einer Gemeinschaft. Es ist also wirklich nur der Künstlerin Latai Taumoepeau zu verdanken, wenn das alles so anmutig und harmonisch über die Bühne geht wie in ihrer Performance "This Is Not a Drill", die im Ocean Space in Venedig zu sehen ist: Taumoepeau betritt die Bühne mit einer venezianischen Mannschaft 15-jähriger Basketballspieler im Schlepptau. Alle schlaksig und einen Kopf größer als sie. Sie stecken in grünen Trikots und Sporthosen, und sie sind bemerkenswert motiviert für diese olle Kunstaktion an einem sonnigen, schulfreien Nachmittag.
Taumoepeau bläst in ihre Trillerpfeife. So beginnt ihre Choreografie, die sie dirigiert, indem sie mit einem Holzpaddel weite Kreise in die Luft malt. Die jungen Sportler stellen sich jeder auf ein Rudergerät, aufgemotzt durch ein traditionell-indigenes Ruder, das über die Kette mit dem Rudergerät und einem Lautsprecher verbunden ist. Ihre Ruderbewegungen aktivieren die schönen Chorgesänge aus den Boxen.
Man hört Taumoepeaus Familienmitglieder singen und Geschichten erzählen, es ist ein Stamm aus dem Inselstaat Tonga in Polynesien im Südpazifik. Ihre Stimmen schichten sich übereinander, genau wie die einzelnen Ruderbewegungen erst in Summe ein großes Ganzes ergeben. Als Nächstes ist eine erwachsene Rudermannschaft dran, grauhaarige Herren und Damen mischen sich unter die Teenager. Auch eine Jugendgruppe des Fußballclubs Venedig war schon da, alle Sportarten und Altersgruppen sind zugelassen.
Die Venezianer sind kein indigenes Naturvolk
Die Vereine lernen sich hier gegenseitig kennen, bringen Familienmitglieder mit. Und das internationale Publikum auf den Rängen trifft mit einer unverhohlenen Neugier zur Abwechslung endlich auf waschechte, wirklich hier lebende Venezianer. Über die wurde während der Biennale häufiger gescherzt, dass es sie ja überhaupt gar nicht mehr gebe. Die fehlende Einbindung, wenn nicht gar offene Verachtung der locals durch die Venedig-Biennale und ihre internationalen Besucher ist eine bekannte Kritik an dem Mega-Event, eine Kritik ohne Konsequenzen.
Umso wichtiger ist Teilhabe hier im Ocean Space. So lautet die Mission des Ausstellungshauses in dem entweihten und danach lange Zeit geschlossenen Kirchengebäude San Lorenzo, deshalb ist der Eintritt hier immer gratis. Aber andererseits: Wie ein indigenes Naturvolk sollte man die Venezianer tunlichst nicht behandeln, sonst wird das Bild leicht peinlich.
Früher lebten die Nonnen von San Lorenzo streng isoliert von ihren direkten Nachbarn. Im zweigeteilten Kirchenraum fand ein doppelter Gottesdienst statt, am Altar in der Mitte sprach der Priester in zwei Richtungen gleichzeitig, nur eine Hälfte davon war öffentlich zugänglich. Die Akustik des Raums war schon immer auf mehrstimmige Gesänge ausgelegt – und eignet sich deshalb jetzt so wunderbar für "This Is Not a Drill".
Keine Performance, sondern "Faivā"
Für seine einmalige Kulisse wurde der Ocean Space in den letzten Jahren schnell berühmt unter Venedigs Kunsttouristen, die oft zumindest einen kurzen Blick ins Innere werfen wollen. Doch es lohnt sich wirklich, während eines Biennale-Besuchs hier längere Zeit hängenzubleiben und die gezeigten Positionen näher kennenzulernen. Sie sind jedes Jahr clever genug, um sehr ortsspezifisch auf den Raum als ihr besonderes Kapital einzugehen und damit zu spielen.
Latai Taumoepeau ist eine Performancekünstlerin ganz eigener Prägung. Sie ist eine Punake (eine körperzentrierte Performerin), die nicht etwa einfach Performance praktiziert, sondern Faivā, ihre indigene Form davon. In dieser Tradition stehen viele ihrer Arbeiten, gezeigt in ihrem Geburtsland Australien und in Neuseeland, oft zum Thema Klimakrise und meistens unter Einsatz ihres eigenen Körpers ("Dark Continent", 2018, "The Last Resort", 2020). Nur jetzt kommen zum allerersten Mal so viele andere Körper hinzu, weil es dabei um politisches Handeln geht, um die Mobilisierung der Massen; den Moment, wenn das Ganze plötzlich mehr als die Summe seiner Teile wird.
Die Gesänge in "This Is Not a Drill" handeln von Tiefseebergbau, dem umweltschädlichen Abbau von Ressourcen wie Phosphat, der Pazifikstaaten wie Tonga bereits jetzt betrifft und besorgt. So richtig wissen darüber hierzulande die wenigsten Bescheid, trotz allem neuen Ökobewusstsein. Im Ocean Space kann man sich ausführlich dazu informieren, oder aber, wenn die Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, auf einem emotionalen und sinnlichen Level davon erfahren. Latai Taumoepeau zieht nämlich irgendwann aus dem für alle sichtbaren Steinboden unter ihren Füßen "die unsichtbaren Stimmen aus dem Wasser hervor".
Der Ruf aus der Tiefe
Es sind Stimmen, die genau gegenüber, auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel tönen. In Tonga wie in Venedig sind die Einheimischen sehr wasserverbunden, Teenager fühlen sich hier wie dort von ihrem Heimatgewässer mit großgezogen. In beiden Gegenden ist man sehr leidgeprüft wegen baulicher Veränderungen der Natur, von denen ja auch Venedig ein Lied singen könnte.
Damit dieser Ruf aus der Tiefe nicht gleich wieder verhallt, ist die aktuelle Ausstellung im Ocean Space zweigeteilt, mit der hinteren Hälfte der einstigen Kirche (wo die Nonnen saßen) als Antwort und Lösungssuche. Hier ließ die Maōri-Architektin Elisapeta Hinemoa Heta eine zeitgenössische Variante einer Ātea errichten. Zusätzlich legte sie vor dem katholischen Altar von San Lorenzo ihre Gaben aus, ein Dutzend Schalen mit Kokosöl, das bis zum Ausstellungsende im Oktober langsam schmelzen und seinen Duft verströmen soll. Und in friedlicher Koexistenz mit den noch immer hier liegenden katholischen Gräbern und Gebeinen, womöglich auch mit den Geistern, steht da nun also plötzlich diese indigene Ātea.
Wer das Forum auf weißen Ziegelsteinen unter einer weißen Stoffdecke betritt, soll sich möglichst an die Tikanga halten, das Verhaltensprotokoll der Maōri. Deshalb sitzen die Besucherinnen und Besucher ausgerichtet nach der Himmelsrichtung ihrer Geburtsländer. Sie sitzen in einem Kreis beisammen, so wie in der Maōri-Philosophie vieles als zirkulär wahrgenommen und verstanden wird. Und sie sprechen darüber, was sie als Menschen dem Wasser alles verdanken – eigentlich ja unser gesamtes Leben. Es muss nicht immer gleich die türkise Lagune Venedigs oder der gigantische, weltumspannende Pazifik sein, um eine innige Beziehung dazu zu führen. Den spontan erinnerten Geschichten über ein kleinstädtisches Schwimmbad mit einem alten Sprungturm, in das eine Besucherin als Jugendliche immer ging, wird hier in der Ātea – strikt nach Maōri-Protokoll – genauso viel Gehör geschenkt.