Wenn im Jahr 2018 Künstler in die Öffentlichkeit traten, kamen sie nicht mit wehendem Schal und Entourage, sondern oft als Einsatzkommando. Beispielsweise, als beim WM-Finale in Moskau (Kroatien gegen Frankreich, Frankreich gewann), plötzlich Polizisten das Spielfeld stürmten. Die russische Künstlergruppe Pussy Riot mischte in geliehenen Uniformen an allen Sicherheitsvorkehrungen vorbei die Putin-WM in ihren letzten Minuten kurz auf. Die Botschaft: In Russland dringt die Polizei, wann immer sie will, ins Leben eines jeden ein.
Das weltweit zuschauende WM-Publikum hatte sich das schon irgendwie gedacht, schließlich feierte man ja im Land eines Autokraten. Und wollte jetzt in der 81. Minute gewiss nicht von einem stets als "Punkband" bezeichneten Künstlerkollektiv daran erinnert werden.
Aber hat jeder, der Aufmerksamkeit fordert, gleich Unrecht? Der Reflex ist ja bekannt: Man wirft jemandem seine Methoden vor, um nicht über sein Anliegen zu sprechen. Denn dann wäre es vorbei mit dem gemütlichen Beisammensein.
In allen Kommentaren auf die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) kommt zuverlässig die "Selbstgerechtigkeit" der Gruppe zur Sprache. Als verlöre jemand sofort seine Glaubwürdigkeit, wenn er sich auf unbescheidene Weise Gehör verschafft. Am Ende ihrer Aktion "Soko Chemnitz", diagnostizierte die "NZZ", bliebe nichts, nur "narzisstischer Gewinn" für das Künstlerkollektiv. Und das "eigentliche Thema – Rechtsextremismus in der deutschen Gesellschaft, speziell in den neuen Bundesländern – interessierte keinen mehr". Selbstverständlich auch den Kommentator nicht.
Immer wenn die Kunst ihren "Als-Ob-Status" verlässt und außerhalb der definierten Kunst-Räume als Akteur mit gesellschaftlich wirksamen Handlungen auftritt, muss sie durch einen extrem harten Realitäts-Check. Wie das ZPS mit seinem fingierten Online-Pranger, mit dem sich Neonazis selbst denunzierten: Als reales Instrument wurde die Aktion schärfer unter die Lupe genommen, als jeder CEO einer beliebigen anderen Branche für seine Erfindungen jemals zu befürchten hätte. Die Regeln, was Kunst darf und soll, haben dann plötzlich erstaunlich viele Menschen parat.
Einerseits herrscht die maulige Meinung vor, sowas bringe ja eh nichts. Gleichzeitig heißt es, "die Gesellschaft wird von den Kunststalinisten überwacht und eingeschüchtert" ("NZZ"). Und was, wenn die Kunst mit ihren Recherchen und Aktionen allen kritischen Überprüfungen standhält? Wenn ihr Anliegen nicht mehr zurückgewiesen werden kann? Dann werden die Künstler zurück in ihre Spielecke geschickt, und ihre gefürchteten Aktionen und Recherchen sind "nur Kunst".
So ging es der Gruppe Forensic Architecture, die ihre Realitäts-Tauglichkeit in jedem neuen Rechercheprojekt mit wissenschaftlicher Präzision unter Beweis stellt. Trotzdem gelang es ihnen nicht, im politischen Geschehen Spuren zu hinterlassen. Das Kollektiv aus Architekten, Künstlern und Datenexperten hatte das Kasseler Internetcafé, in dem Halit Yozgat vom rechtsextremen NSU ermordet wurde, nachgebaut und bewiesen, dass der anwesende V-Mann Andreas Temme weder den Schuss überhört noch die Leiche übersehen haben konnte, da er sich im selben Raum befand.
Kunst, wies die hessische CDU die Ergebnisse zurück, sei nicht der Wahrheit verpflichtet, also kein Beweismaterial. Die Ermittlungen gegen Temme wurden eingestellt (Interview mit Forensic Architecture in der aktuellen Monopol-Ausgabe).
Politische Kunst bietet konkrete Möglichkeiten, viele davon sind nicht spaßguerillahaft oder zersetzend, sondern konstruktiv. Wie die Manifesta in Palermo in diesem Jahr: Die Biennale erweckte brachliegende Gebäude zum Leben, stiftete Gemeinschaften und trug zur einem neuen weltoffenen Selbstverständnis der vor zehn Jahren noch völlig zerrütteten Stadt bei. Forensic Architecture zählte mit einer Dokumentation der mehr als 16.5000 Todesfälle im Mittelmeer zu den stärksten künstlerischen Beiträgen.
Dass die neuen Protagonisten dieser Kunst, die sich an der gesellschaftlichen Realität nicht nur reibt, sondern mitbestimmt, höchst effizient arbeiten, kann Skeptiker beunruhigen. Diese Künstler beherrschen die Technik und die Kommunikation, kennen die Gesetzeslage, argumentieren scharfsinniger als Politiker, sind im Umgang mit Bildern allen voraus und wissen, wie man präzise Interviews gibt. Vielleicht ist ein Teil der Öffentlichkeit ja auch deshalb irritiert, empfindlich, fast schon beleidigt: Weil es ihr Bild vom Künstler durcheinanderbringt, der provozieren und unbequem sein darf, solange innerhalb seines spinnösen Kunst-Geheges bleibt. Doch das vor sich hin polternde Künstlergenie ist schon länger am Ende. Die genialen Kunstkollektive aber fangen gerade erst an.