Neun Menschen im Close-up, die von ihren Erfahrungen mit Pegida und Protestkultur erzählen. Neun mal 90 Minuten, in denen Menschen sprechen, weitestgehend frei von Nach- und Zwischenfragen. Die Farbigkeit der Aufnahmen ist so stark reduziert, dass sie beinahe wie Schwarz-Weiß-Bilder wirken. Das ist die Essenz der Videoarbeit von Mario Pfeifer, die derzeit im Lichthof des Albertinums in Dresden zu sehen ist. Sie trägt den etwas sperrigen Titel "Über Angst und Bildung, Enttäuschung und Gerechtigkeit, Protest und Spaltung in Sachsen/Deutschland".
Der in Dresden geborene Künstler, der zwischenzeitlich in Los Angeles, New York, Leipzig und Frankfurt studiert und gelebt hat, befragte für das Projekt unter anderem einen Konfliktforscher, einen Journalisten und eine Bildungswissenschaftlerin. In den Filmaufnahmen erhalten sie weder Namen noch biografische Daten. Auch wenn aus ihren Erzählungen hervorgeht, wer Unternehmer und wer Bürgermeisterin ist, sollten die biografischen Eckdaten nicht die Rezeption der Haltungen und Meinungen beeinflussen.
Die Arbeit entstand 2016 als Auftragsarbeit für die Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) in Leipzig und wurde seitdem in Potsdam, Berlin, Goslar, Düsseldorf und Chemnitz gezeigt. Im Lichthof des Albertinums wird sie, und das war Mario Pfeifer wichtig, eintrittsfrei für jeden Besucher sichtbar sein. Zugleich schließt sich hier der Kreis, weil Dresden zumindest der imaginäre Ausgangspunkt der Arbeit war: In den USA hatte Pfeifer eine Titelseite der "New York Times" gesehen, die von Pegida berichtete. Der bislang völlig unbekannte Lutz Bachmann hatte nicht nur weltweite Schlagzeilen gemacht: Er brachte wöchentlich tausende Menschen auf die Straße. Welche politische Kraft schafft das schon?
Pfeifer geht es um Verständigung. Tatsächlich versuchte er, auf Pegida-Demos Gesprächspartner zu finden. Aber niemand wollte mit ihm sprechen. Auch Briefwurfsendungen, an Haushalte in verschiedenen Dresdner Stadtteilen verteilt, blieben unbeantwortet. Erst die Landeszentrale für politische Bildung konnte mithilfe von Leserzuschriften Gesprächspartner vermitteln. So konnte Pfeifer auch einen Pegida-Mitbegründer interviewen. Übrigens waren Pegida-Anhänger auch bei der Eröffnung der Ausstellung in Leipzig zugegen. Genau das müsse man aushalten, wenn man gesellschaftliche Dialoge suche, meint Pfeifer.
"Anleitung zum Zuhören"
Die Videoarbeit basiere auf Vertrauensarbeit. Tatsächlich erhielten die Interviewten die Fragen bereits vor den Filmaufnahmen. Sie sollten sich vorbereiten und ihre Geschichten sortieren können. Das Projekt ist in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zu journalistischer Arbeit, die einordnet, nachfragt, auch hinterfragt. Pfeifer aber möchte die Geschichten stehenlassen und glaubt an etwas, das man als herrschaftsfreien Diskurs bezeichnen könnte: Jeder soll frei sprechen können. Jeder soll Gehör finden. Die Arbeit sei eine "Anleitung zum Zuhören". Tatsächlich ermittelte das GfZK eine außergewöhnlich hohe Verweildauer vor der Videoarbeit: Weil ihr Kernanliegen einen Nerv trifft, indem sie dokumentiert.
"In Zeiten der Lügenpressevorwürfe wollte ich mich nicht angreifbar machen", sagt Pfeifer. Er wollte nicht editieren und aus dem Zusammenhang reißen. Nun haben die Einordnungen und Bewertungen von Journalisten ihre Funktion. Pfeifer will sie aber nicht leisten – schließlich ist er Künstler, und kein Journalist. Außerdem gibt er zu bedenken, dass kaum eine journalistische Arbeit neunstündige Interviews zeigen könne, also zwangsläufig verkürzen müsse. Hinzu komme der permanente Druck, rasche Schlagzeilen zu produzieren "im Gewitter von Informationen". Auch Albertinums Direktorin Hilke Wagner spricht von "hysterischen Zeiten, die von Polarisierungen geprägt sind".
Die Videoarbeit ist also ein Zeitbild, sie nimmt sich alle Zeit der Welt, von Spaltungen, Rissen und gesellschaftlichen Verwerfungen zu erzählen. Wie man die Aussagen bewertet, bleibt dem Betrachter überlassen. "Bei mir haben alle Recht, auf Basis des Grundgesetzes zu sprechen", sagt Pfeifer.
Er gebe den Menschen Zeit, ihre Stimme behutsam einzusetzen. Das Close-up-Verfahren konfrontiert unmittelbar mit den Personen, die radikale Nähe zwingt uns dazu, Distanz aufzugeben. Obgleich das Videobild farblich stark reduziert ist, wollte Pfeifer kein Schwarz-Weiß-Bild zeigen: weil sie historisiert hätten, was aktuell ist. "Es ist wichtig, dass ein Mensch sichtbar wird und dass man ihn versteht."
Eigentlich vollzieht die Videoarbeit Pfeifers also eine Rede-Kur. Oder handelt es sich gar um Kunsttherapie? Man kann nur hoffen, dass sie wirkt.