Künstler sind extrovertierte Leute. Sie wollen sich produzieren und mit ihren Werken auf jeden Fall ins Museum kommen. Oder? Eine Biografie, die sich an einem solchen Künstlerbild besonders heftig reibt, ist die von Vivian Maier (1926–2009). 40 Jahre lang verdiente sie ihr Geld als Kindermädchen in diversen Chicagoer Familien. Und sie fotografierte – auf einem Niveau, das Vergleichen mit Diane Arbus, Robert Frank oder Lisette Model standhält. Allerdings unternahm Maier kaum Anstrengungen, ihre Bilder ausstellen oder drucken zu lassen. Sie ließ kaum etwas vergrößern, ja ein Großteil der Negative blieb sogar unentwickelt. Wollte oder konnte sie nicht? Das bleibt eines der Geheimnisse in dieser Geschichte.
2007 stieß der damals 29-jährige Maloof durch eine Versteigerung auf Maiers Straßenfotografie, erahnte ihren Rang, erzielte mit 200 auf eine Website gestellten Bildern Klickrekorde und bat Experten um ihre Meinung. Der Fotograf Joel Meyerowitz, der auch im Film interviewt wird, adelt Maier als "echte Fotografin", attestiert ihr einen "unverfälschten Blick" und "tiefen Sinn für die menschliche Natur". Was in dem Nachlass der Nanny an Street Photography und eindrücklichen Porträts zu finden ist, lässt keinen Widerspruch aufkommen. Und ein 2011 bei Schirmer/Mosel erschienener Bildband wurde - auch von Monopol - glänzend besprochen.
Verblüffend die hohe Ausbeute der Fotografin an ausdrucksstarken Bildern pro Rollfilm; irre, wie sie mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex im rechten Moment zuschnappen konnte. Schlafwandlerisch und skrupellos muss sich Maier auf der Jagd nach Blicken, Gesten und Situationen durch die Straßen bewegt haben. Widersprüchlich ist das Bild, das Eltern und frühere Schutzbefohlene der Nanny von ihr entwerfen. Einige Gesprächspartner beschreiben ihre liebevolle Natur, andere berichten von Exzentrik oder dunklen Seiten ihrer Kinderfrau. Maier nahm Kinder mit auf Fotostreifzüge in gefährliche Gegenden von Chicago, von Gewalt gegen die Schutzbefohlenen wird auch berichtet – eine reine Heldengeschichte lässt sich nicht erzählen.
In späteren Jahren entwickelte sich die Nanny zunehmend zum Messie und verstopfte ihr Zimmer mit verstörenden Mengen an gesammelten Zeitungen. Als habe Vivian Maier ihren Informations- und Bilderhunger nicht mehr kontrollieren können. Eine faszinierende, letztlich tragische Figur, an deren Geschichte, wäre sie erfunden, jeder Scriptdoktor verzweifeln müsste. Nun ist ein Band mit ihren Farbbildern erschienen, und Meyerowitz, selbst einer der ersten, die Bilder in Farbe aufnahmen, schreibt in der Einleitung: "Vivian Maier war eine frühe Poetin der Farbphotographie".