An einem Nachmittag in Berlin-Kreuzberg. Wir treffen uns in der Roten Rose, jenem berüchtigten 24-Stunden-Bierlokal, in dem seit rund 30 Jahren Kneipenbesucher aller Schichten zusammenkommen. Zwischen Jukebox, Spielautomat und rustikalem Gartenzwerg-Interieur bestellen wir zwei Bier, ein paar Stammgäste prosten uns zu.
Herr Steinkraus, die Bilder in der Roten Rose entstanden zwischen 2010 und 2016. Welche Menschen sind Ihnen in dieser Zeit begegnet, was für Geschichten haben Sie erlebt?
Das kann ich nicht pauschal runterbrechen. Aber wenn man von der Rose spricht, führt eigentlich kein Weg an Aische vorbei. Sie war eine charmante ältere Türkin. Sie trug immer einen Hut, trank die meiste Zeit Kaffee und hat pausenlos geraucht. Wo genau sie herkam, hat sie mir nie verraten. Sie war praktisch immer dort, und damit meine ich jeden Tag. Sie war, soweit ich weiß, auch der einzige Mensch in dieser Kneipe, der nicht für seine Getränke bezahlen musste. Sie war das gute Herz der Rose und ist im April 2014 verstorben. Das Buch ist ihr gewidmet.
Welche gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse macht so ein Raum sichtbar?
Ich habe die Rote Rose immer als eine Art Zeit-und-Raum-Kapsel verstanden, in der das alte Kreuzberg noch wahrnehmbar ist. Ein Schutzraum in einer städtebaulichen Utopie. In der Bar und rund um den Kotti halten sich Menschen auf, die aus der Gesellschaft immer mehr verschwinden – bedingt durch ein neoliberales System, in dem alles teurer und schneller wird und das verlangt, dass man stets anschlussfähig ist.
Wie sind Sie mit dem Problem umgegangen, das Milieu zu romantisieren oder vorzuführen?
Das kommt immer auf den Winkel an, aus dem man etwas betrachtet. Ich bin den Leuten auf Augenhöhe begegnet, das spiegelt sich auch in der Auswahl meiner Bilder wider.
Sie haben Malerei studiert, spielt das noch eine Rolle in Ihrer fotografischen Arbeit?
Auffallend ist, wie wenig insgesamt über die Materialität der Fotografie reflektiert wird. Meist geht es darum, was konkret auf den Bildern zu sehen ist. Das schließt auch die für ihre Stilübungen bekannte mediumsreflexive Konzeptfotografie mit ein, die besonders um Abgrenzung bemüht ist. In der Malerei verhält es sich in der Regel andersherum. Der Diskurs wird selten über konkrete Motive auf der Leinwand geführt, sondern wie sie formal umgesetzt werden. Das finde ich grundsätzlich spannender und habe es auch in meiner Arbeit als Möglichkeit verstanden, um formale Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Nur wenn es eine Form annimmt, kann es auch eine Richtung haben.
Wie haben Sie das konkret umgesetzt?
Soziale Umbrüche sind auch immer mit technologischen Umbrüchen verbunden. Verändert sich die Technik, verändert sich die Fotografie mit ihr. Wir leben in einer Zeit des Übergangs – die mit einer Bewegung vergleichbar ist: weg vom Analogen, hin zum Digitalen. Das ermöglicht für den Moment eine enorme Bandbreite unterschiedlichster Aufnahmetechniken. Diese Vielfalt des Mediums habe ich in meine Langzeitstudie mit einbezogen und mit unterschiedlichen Kameras fotografiert – Handykameras, Klein- und Großbild, digital und analog –, auch um mit einem homogenen Look zu brechen, aber vor allem, um einen Diskursraum zu schaffen, in dem man das sozialdokumentarische Genre nochmals neu betrachten kann. Die vorhin angesprochene Verdrängungsbewegung im Sozialen wird hierbei auch auf technischer Ebene aufgegriffen. Wie das im Verhältnis steht, ist eine der wesentlichen Fragen des Buches.
Trotzdem ist Ihre Arbeit auch ein Zeitdokument.
Ja, der erwähnte technische Mitschnitt funktioniert nur über einen zeitlichen. Obwohl ich im klassischen Sinn die sozialdokumentarischen Muster ins Leere laufen lasse und einen Kommentar dazu mitgebe, ist es dennoch so, dass das Dokumentieren als Programm dem Ganzen nach wie vor eingeschrieben ist. Erst nach und nach ist mir aufgefallen, dass viele Sachen, die mich interessiert haben und die ich fotografisch festgehalten habe, auch tatsächlich verschwunden sind. Sei es das Klientel eines alteingesessenen Milieus oder eine Telefonzelle. Der Verweis auf das Zeitdokument spiegelt sich am Ende auch in der Form des Buches wider, dem roten Cover und der Schrift, in Anlehnung an die dtv-Lexika der 60er-Jahre. Obwohl das Buch im Kern morgen nicht überholt sein wird, hat mir der Gedanke gefallen, dass es über kurz oder lang doch zu einem Relikt wird. Und in dem kann man dann, wie in den alten Lexika, nachschlagen, wie das früher so war mit Kreuzberg und den Telefonzellen.