Erhabenheit, Immersion und Überwältigung sind ja eigentlich etwas Schönes: sich auflösen wie ein Zuckerwürfel in der Kunst, eintauchen, loslassen. Mich erfüllt diese Vorstellung allerdings mit Entsetzen.
Kürzlich stellte der Musiker Robot Koch im Berliner Zeiss Großplanetarium sein neues Album vor, begleitet von Visuals des Künstlers Mickael Le Goff: In der Kuppel glitten Raumschiffe und Planeten durchs All, wucherten digitale Eisblumen vor einer gewaltigen Leere, ornamentale Bildschirmschoner-Exzesse, aber eben nicht auf einem begrenzten Bildschirm, sondern XXL und ohne Rand und Ende. Superschön – aber der Horror! Mir wurde schwindelig, dann schlecht, schließlich verbrachte ich den Rest des Konzerts mit geschlossenen Augen und dem Gedanken: Wie toll wäre es, wenn man nur loslassen könnte.
Ich bin nicht allein mit diesem krampfhaften Verhältnis zum Absoluten. Eine Kollegin erzählte mir, dass es ihr bei David OReillys Beitrag für die Reihe "The New Infinity - Neue Kunst für Planetarien", für die die Berliner Festspiele in Kreuzberg eine große Kuppel aufgebaut haben, ähnlich ging. Schwindel, Übelkeit, Panik.
Vielleicht, so überlegten wir, wollen die meisten Menschen einfach keine "neue Unendlichkeit" und empfinden Immersion als totalitär. Vielleicht wollen sie sich von der Wirklichkeit distanzieren, um sie so analytisch und emotional besser bearbeiten zu können. Der Erfolg von Instagram und der Misserfolg von Google Glass spricht dafür: Lieber schön sicher Bildchen wegscrollen, als durch erweiterte Realität stolpern.
Wer mehr über das zwiespältige Verhältnis von Überwältigungssehnsucht und -angst wissen will, landet schnell beim Schriftsteller Stendhal. Der besucht 1817 auf seiner Italienreise auch Florenz und ist zunächst begeistert: "Ich befand mich in einer Art Ekstase bei dem Gedanken, in Florenz und den Gräbern so vieler Großen so nahe zu sein. Ich war in Bewunderung der erhabenen Schönheit versunken; ich sah sie aus nächster Nähe und berührte sie fast. Ich war auf dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmlischen Empfindungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten.“
Klingt gut, nach dem Besuch von Santa Croce allerdings schlägt das ekstatische Gefühl in kalten Entzug um: "Als ich die Kirche verließ, klopfte mir das Herz; mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen." Als hätte die intensive Empfindung alle Kraft aus dem bildungshungrigen Körper gezogen, um eine schlappe Larve übrig zu lassen.
Wie dem Dichter geht es einigen Florenz-Touristen nach ihm. In den 1970er- und 1980-Jahren beschreibt die Psychiaterin Graziella Magherini über hundert Fälle, in denen Nicht-Italiener – vor allem Amerikaner, Nord-Europäer und Asiaten – nach der Besichtigung kultureller Highlights der Stadt psychosomatische Beschwerden entwickeln. Das von Magherini so benannte Stendhal-Syndrom tritt plötzlich auf und hält zwei bis acht Tage an. Es äußert sich in Brustschmerzen, Herzrasen, Schweißausbrüchen, Panik, Erschöpfung. Einige Patienten, so beschreibt die Ärztin, versuchen sogar das Kunstwerk zu zerstören, das ihr Unbehagen ausgelöst hatte.
In der Medizin umstritten
Ob es das Stendhal-Syndrom wirklich gibt, ist indes in der Medizin umstritten, denn die große Anzahl an Symptomen ruft nach einer soliden Differentialdiagnose. Das Interesse an dem Phänomen ist vielleicht deshalb gering: PubMed, die wichtigste Meta-Datenbank mit medizinischen Artikeln, findet lächerliche 18 Einträge zum Thema, während eine Suchanfrage wie "Restless Legs Syndrome" auf tausende Treffer kommt. Die wenigen Studien zum Stendhal-Syndrom haben dann auch nur ein bescheidenes Ergebnis: Ja, irgendwas passiert im Angesicht der Kunst.
Also lieber direkt vor Ort nachforschen. Auf einer Veranstaltung der Studienstiftung des deutschen Volkes frage ich Eike Schmidt, den Direktor der Uffizien, ob er an die Existenz des Stendhal-Syndroms glaubt. Aber ja, so seine Antwort. Er beschreibt ein Erlebnis in seiner Kindheit, als er bei der Vorstellung der Anzahl von Büchern in der Welt Schwindel empfindet und in Schweiß ausbricht. Das Aufsichtspersonal der Uffizien sei aber gut gebrieft: Im Saal von Caravaggios "Medusa", unter deren schrecklichen Blick Leute immer wieder zusammenklappen, stehe ein Erste-Hilfe-Koffer bereit. Auch epileptische Anfälle habe es schon gegeben. "Aber Stolperunfälle sind in unserem Museum das weitaus größere Problem."
Letztlich kann man eben auch das Erhabene managen, denke ich und spreche mir damit Mut zu, bevor ich die Uffizien betrete. All das Brimborium, das die Kunst wiederum aus dem Stendhal-Symptom gemacht hat (am prominentesten Dario Agento mit seinem gleichnamigen, in den Uffizien spielenden Thriller) – am Ende ist es doch ganz einfach: "Wo oben und wo unten ist, ist alles, was du wissen musst in dieser Welt", hatte gestern ein Künstler gesagt, und damit eine alte Weisheit zitiert. So ist es, denke ich: Wo oben und unten ist und wo der Erste-Hilfe-Koffer steht.
Schon nach 20 Minuten im Museum, nach Mikrodosen von Botticelli, da Vinci und Giotto, stehen wir auf der Terrasse und trinken erstmal einen Caffè. Doch zu gefährlich das Ganze.