Debatte

Wird Kunst durch Moral und politische Gesinnung eingegrenzt?

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Zwei Jugendliche tragen T-Shirts mit dem Gedicht "avenidas" von Eugen Gomringer bei der Enthüllung des Werks in Juni an einer Hauswand im bayrischen Rehau. Ursprünglich war die Verse an der Fassade einer Berliner Hochschule angebracht, doch weil es angeblich sexistisch ist, wurde es entfernt

Im neuen Kulturkampf fürchtet Hanno Rauterberg um die Kunstfreiheit. Doch weil der Kunstkritiker seine Argumentation auf wenige skandalisierte Fälle beschränkt, entgehen ihm wertvolle Entwicklungen

Die Debatte um ein Gemälde der Künstlerin Dana Schutz, das den Leichnam eines schwarzen Jungen zeigt. Die Proteste gegen Ausstellungen des Kleine-Mädchen-Malers Balthus und die Übermalung eines vermeintlich sexistischen Gedichts von Eugen Gomringer im Zuge der #Metoo-Debatten. Die Absage einer Ausstellung des Malers Chuck Close, dem sexuelles Fehlverhalten vorgewor­fen wird. Oder die Diskussionen um Mohammed-Karikaturen und die Frage, ob es Grenzen der Satire gibt.

Der Journalist Hanno Rauterberg nimmt in seinem Buch "Wie frei ist die Kunst?" diese Fälle als Belege für einen "neuen Kulturkampf", der die "Freiheit der Kunst" infrage stelle und die "Krise des Liberalismus" anzeige. "Mal geht es in diesen Konflikten darum, wie sich Minderheiten gegen Mehrheiten wehren können, ein anderes Mal ringt die Gegenwart mit ihrer Geschichte, weil frühere Zeiten nicht auf heutige Weise dachten und handelten und ihre Artefakte nun manchen sexistisch, rassistisch oder sonst wie überholt vorkommen", schreibt Rauterberg und folgert: "Das Sag- und Zeigbare soll neu kartografiert werden."

Gegen diese angeblichen Partikularinteressen und zeitgeistige Political Correctness beharrt Rauterberg auf dem "universalistischen Freiraum der Kunst". Allerdings sehen manche Aktivisten gerade in propagierten Universalismen wie der Autonomie der Kunst maskierte Privilegien, in deren Genuss vorwiegend weiße Männer Europas oder Nordamerikas kommen. Wird die Kunst also durch Moral und politische Gesinnung eingegrenzt, wie Rauterberg meint, oder ist die "Kunstfreiheit" ein ebenso moralischer und politischer Kampfbegriff, der Ausgrenzung kaschiert?

Um hier nicht in die Henne-oder-Ei-Frage zu verfallen, wäre es hilfreich, Begriffe zu konkretisieren, die Debatte geschichtlich zu verorten. Die These einer "Krise des
Liberalismus" impliziert ja, dass es früher einmal besser war. Aber wann genau? Vor 20 Jahren, als Nicht-Bio-Deutsche in hiesigen Museen allenfalls die Toiletten putzen durften? Vor 40 Jahren, als ernstzunehmende Künstler selbstverständlich nur Männer waren? Zu Zeiten Balthus'? Und könnte man andersherum manches überhitzte Argument der jüngsten Zeit nicht auch als Reaktion auf die sehr reale rassistische und antiemanzipatorische Politik rechtspopulistischer Regierungen verstehen? Rauterberg bleibt diese Antworten schuldig.

Ebenso wolkig sein Kunstbegriff. Immer wieder nennt er die Moderne und die historische Avantgarde als "Reich der freien Ästhetik". Der Kardinalfehler der postmodernen Gegenwart sei es dagegen gewesen, dass sich die Kunst mit der Wirklichkeit beschmutze. Wenn die Kunst aber, so Rauterberg, "ihren Anspruch auf Autonomie verrät" und "ihr Privileg der absoluten Unzuständigkeit aufgibt, gerät sie unversehens in die Gefahr, dass man sie als Kampfmittel sozialer oder politischer Interessen missbraucht".

Gerade der Avantgarde – von Dada bis Bauhaus – war es aber doch darum gegangen, ins Leben hineinzuwirken. Den Futurismus betrachten wir lange schon selbstverständlich vor dem Hintergrund des Faschismus. Sollten wir da den Surrealismus nicht auch diskutieren können vor der Folie von Exotismus und Sexismus – nicht als Zensurmaßnahme, sondern als Kontextualisierung, die eine produktive Auseinander­setzung überhaupt erst möglich macht?

Was die Gegenwartskunst angeht, verkennt Rauterberg, dass Fragen der Repräsentation und Identität seit vielen Jahren eine ihrer fruchtbarsten Quellen dar­stellen. Denn aus ihr entspringen Werke für ein Publikum und eine Gesellschaft, in der alle Reinheitsgebote für Kunst lange schon obsolet sind. Unterdessen bleibt auch das von Rauterberg in Anlehnung an die klassische Ästhetik postulierte "freie Spiel der Formen" heutigen Künstlern unbenommen. Aber wo genau findet es sich? Bei Jeff Koons? Bei Neo Rauch, bei Georg Baselitz? Ist das die relevantere, ideologiefreie Kunst?

Rauterberg sieht die Kunst aber auch von anderer Seite in Gefahr. Er beschreibt, wie sich heute Rechtspopulisten der einstigen Mittel der Avantgarde – Provokation, Nonkonformität, Überschreitung – bemächtigt haben und etwa US-Präsident Trump alle Klischees des narzisstisch-kompromisslosen Künstlers erfüllt. Aufschlussreich auch die Passagen zur Rolle der Medien in den Kulturkämpfen. Der "Zeit"-Journalist führt hier die Eigendynamik sozialer Netzwerke an, ihre Mob-Mentalität und Affektfixierung, die Kurzschlüsse mancher Onlinepetition. Wobei man ergänzen möchte, dass auch das ein oder andere traditionelle Qualitätsmedium in jüngster Zeit vermehrt auf kalkulierte Tabubrüche und inszenierte Wutausbrüche setzt, den Erregungswellen im Internet so hoffnungslos hinterherhechelnd wie Markus Söder der AfD.

Hanno Rauterberg hat sein Buch als Mahnung geschrieben. Doch indem er seine Argumentation auf die krassesten Auswüchse – also Forderungen nach Verbot oder Zerstörung von Kunstwerken – beschränkt, entgeht ihm, dass jenseits dieser Aufreger seit Jahren außerordentlich wertvolle Entwicklungen laufen, die von der Personalpolitik der Museen über kanonkritische Überlegungen bis hin zu ästhetischen Auseinandersetzungen reichen. Ein gutes Werk, ob es von Balthus oder Dana Schutz stammt, kann diesen Auseinandersetzungen standhalten; viele neue faszinierende Werke entzünden sich erst an ihnen. Und wenn sich in den Debatten jetzt Stimmen Gehör verschaffen, die bislang marginalisiert wurden, sollte gerade ein universalistischer Geist auch mit ihnen umzugehen wissen.

Sebastian Frenzel hat über das Buch auch auf Detektor.fm gesprochen: