Das Hotel Occidental liegt in Trümmern: Die einst so einladende Lobby ist eine Ruine, von den Wänden stehen nur noch Fragmente, es ist kalt und dunkel. Ein Jahr lang hatte Neïl Beloufa hier, in einer Halle im Pariser Vorort Villejuif, gemeinsam mit seinem Team an den Kulissen zu seinem ersten Spielfilm "Occidental" gebaut, dann direkt vor Ort gedreht und nach dem Dreh im Filmset mit Freunden Ausstellungen organisiert. Vom Atelier zum Filmstudio zum Projektraum … vorbei! Der französisch-algerische Künstler läuft durch die Halle, die inzwischen an andere Künstler vermietet ist, und freut sich sichtlich.
Es ist ja alles so symbolisch: der Okzident in Trümmern, der Künstler, der schafft und zerstört. "Wir haben hier gelebt, Ausstellungen gezeigt und versucht, Hierarchien zu vermeiden", sagt Beloufa und schaut sich um. "Aber je besser wir eingespielt waren, desto mehr wurde das alles zum bloßen Kommunikationsinstrument, und es entstanden doch wieder schnell Vetternwirtschaft und Machtgefälle, mit mir als dem Obertyrannen."
Jetzt arbeitet der Künstler in einer Halle nebenan, ein zweites Studio hat er nordöstlich vom Zentrum gemietet. Zeit für Neues! Neïl Beloufa ist immer am Aufbauen und Abfackeln, am Machen, Schaffen, Tun. "Am meisten Angst habe ich vor dem Müßiggang. Also kreiere ich immer neue Probleme, um sie zu lösen, damit ich nicht über Probleme nachdenken muss. So halte ich mich selbst auf Trab."
Das funktioniert sehr gut: Beloufa realisierte allein in den vergangenen zwei Jahren aufwendige ortsbezogene Installationen auf vier Kontinenten. In Deutschland war er unter anderem als Preisträger des Nam June Paik Awards und mit einer Ausstellung im Schinkel Pavillon in Berlin präsent, "Occidental" feierte 2017 im Forum der Berlinale Premiere. Diesen Winter zeigte er eine große Ausstellung im Palais de Tokyo in Paris. An diesem für die französische Gegenwartskunst zentralen Ort hat Beloufa schon einmal ausgestellt, 2013. "Es war ein lustiges Experiment, ist aber als Projekt gescheitert", sagt er. Er hatte versucht, durch eine Party Geld einzunehmen, um damit den Direktor zu bestechen und "die Kommandostruktur umzukehren". Die Partygäste sollten durch ihre bloße Teilnahme "unbezahlt an der Installation mitarbeiten". Dann sei aber alles aus dem Ruder gelaufen. Einige Besucher hatten massenhaft Getränkebons eingelöst, für die sie nicht bezahlt hatten – weshalb Beloufa am Ende knietief im Dispo landete.
Mit seiner Rückkehr ins Palais de Tokyo zog er nun Bilanz als ein Künstler, der für seine 32 Jahre schon einiges hinter sich hat, der im MoMA in New York ausstellte und vielfach ausgezeichnet wurde – aber dennoch ein wachsendes Unbehagen an der Kunstbranche spürt. Es ist nicht allein die verbreitete Erfahrung, dass jede Art von Systemkritik sofort vom System aufgesogen und verwertet wird. Nein, Beloufa gibt den Künstlern eine Mitschuld: "Die Unabhängigkeit, die wir behaupten, schneidet uns von der Gesellschaft ab." Nachdem Künstler jahrhundertelang "die offiziellen Bilder der Macht an die unteren Klassen verteilten oder die Macht kritisierten", stünden sie heute zwischen "den Mächtigen und den Machtlosen", die immerhin einige Interessen teilten: "Körperkult, also große Brüste, Muskeln und so weiter, Sportwagen, Luxusgüter und Gewalt wie in Blockbuster-Filmen". Dinge also, die er als progressiver Künstler ablehne. "Deshalb hat die Unterschicht kein Interesse an uns. Zu Recht! Also thematisieren wir ihre Unzufriedenheit, obwohl wir damit unseren eigenen Unmut meinen. Aber die Armen wollen ihre Unzufriedenheit nicht sehen. Und die Elite konsumiert die Unzufriedenheit der unteren Klasse durch die Kunst, so bleibt ihnen erspart, in direkten Kontakt zu treten. Wir Künstler trennen also die Klassen voneinander."
Neïl Beloufa holt kurz Luft und wartet auf eine Reaktion. Er weiß, dass es komplett aus der Mode gekommen ist, von "Klassen" zu sprechen, worauf auch Didier Eribon mit seinem jüngsten Bestseller "Rückkehr nach Reims" aufmerksam gemacht hat: Die Sozialistische Partei in Frankreich verweise seit den 80ern lieber auf die "Selbstbestimmtheit des Individuums und dessen Verantwortung für sich selbst" als auf Klassenidentität, sagt der französische Soziologe. Beloufa kommt zu einem ähnlichen Befund, nur bezogen auf Künstler: "Wir sagen nie, dass es Klassen gibt, weil das unsere eigene Position infrage stellen würde."
Was bleibt also zu tun? Genug, wenn man mit der Arbeit über Arbeit nachdenkt, mit Kunst über Kunst, mit Repräsentation über Repräsentation. Neïl Beloufas Zweifel an seiner Rolle äußern sich nicht in grüblerischem Zaudern, weder in seiner Kunst noch im Gespräch mit ihm. Der Künstler ist ein Meister der Dialektik, sagt mit heiserer Stimme etwas Drastisches wie: "Ich will das System niederbrennen", wartet auf eine Reaktion, nicht nur bei seinem Gegenüber, sondern auch bei sich selbst. Dann durchfährt ihn auch schon der Gegengedanke, in einem Zucken, einem Zusammensacken oder Aufrichten des Körpers ablesbar – und er setzt das Gespräch mit einem beschwichtigenden "Nein, aber ..." oder einem Lachen fort. Überhaupt: seine gute Laune! Die gute Laune eines Berserkers, zwischen größter Bescheidenheit und Größenwahn.
Wenn der Journalist etwas in sein Notizheft schreibt, erschrickt Beloufa, denn auf dem Papier, aus der dialektischen Bewegung gerissen, ergibt das Zitat natürlich weniger Sinn. In diesem ständigen Widerspruch mit sich selbst materialisiert Beloufa sein Werk: mit Filmen und Installationen, in denen die Filme gedreht oder gezeigt werden oder auch Performances stattfinden. In dem Flachbau, den Beloufa nun als Atelier benutzt, tischlern gerade sechs Leute an großen möbelartigen Objekten herum. In einer Ecke steht ein halb abgebranntes Ruderboot. "Haben wir von Warner Bros. geklaut, ist aus dem 'Dunkirk'-Film", sagt der Künstler. Besonders stolz ist er auch auf die Nachbildung einer in der Feuersbrunst vom 11. September 2001 im World Trade Center geschmolzenen Pistole, deren Original im New Yorker Polizeimuseum ausgestellt ist.
Den Zweifel an der eigenen Position machte Beloufa schon in seinem Debütfilm "Kempinski" produktiv, den er vor zehn Jahren noch als Student der Pariser Kunsthochschule Arts Décoratifs drehte. Auf dieser grande école für angewandte Kunst wollte er eigentlich Grafikdesign studieren, ist dann – weil er nach eigenem Ermessen nicht gut genug war – umgeschwenkt auf Dokumentarfilm. Bei einer Exkursion nach Mali, bei der die Studierenden Dokus über den Alltag der Bewohner der Hauptstadt Bamako produzieren sollten, entstand "Kempinski": Beloufa bat Malier, über ihre Vorstellungen von der Zukunft zu sprechen – aber in der Gegenwartsform. Also sieht man in den 14 Minuten Männer, die gelassen und ein bisschen stolz ihr Leben mit Teleportation und der Besiedlung des Weltalls beschreiben. Die nächtlichen Szenen sind mit kalten Neonröhren beleuchtet, dazu aus dem Off flirrende, fiepende Sounds. Entstanden ist so mit einfachsten Mitteln eine Doku als Science-Fiction, die das verbreitete Bild vom hilfsbedürftigen Kontinent Afrika genauso ironisch unterwandert wie das Genre Dokumentarfilm.
Eigentlich ist die ganze Arbeitsweise des Künstlers, der später an der CalArts in Kalifornien und der Cooper Union in New York studierte, in diesem Film schon angelegt: Um Autonomie zu behaupten, erweitert er die gegebenen Spielregeln um seine eigenen. Es ist immer ein Kräftemessen mit den Autoritäten (seine Lehrer fanden "Kempinski" letztlich trotzdem toll; 2013, sechs Jahre nach ihrer Entstehung, lief die Arbeit dann in der Hauptausstellung der Venedig-Biennale). Für seinen Film "World Domination" gab Beloufa 2012 Vertretern verschiedener Länder und Ethnien – erneut Laiendarsteller – eine Spielanweisung für ihre Improvisation: Sprecht an einem Verhandlungstisch über die dringendsten Probleme eures Landes, und schlagt am Ende eine kriegerische Lösung vor. Es ist beängstigend, wie schnell die Darsteller bei rassistischen Stereotypen landen.
Sobald man nur ein paar Modi ändert, passieren unvorhergesehene Dinge, ändert sich der Blick. 2016 hat Beloufa in Köln auf Einladung des Museums Ludwig seltsame Module, die aussehen wie Schlafkapseln und sanitäre Anlagen, in eine Luxuswohnung gestellt, die für zwei Millionen Euro zum Verkauf stand. Die Gäste dieser Station der "Hausbesuch"-Ausstellung wurden von einem realen Makler begrüßt, der die Vorzüge der Wohnung anpries – ohne jedoch die Kunstwerke darin zu erwähnen. Ein Kommentar auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Irrelevanz von Kunst? Auf die Flüchtlingskrise? Auf die Sharing Economy, die die alte Ökonomie ablöst? Beloufa verfolgt wie immer keine spezielle politische Agenda, sondern es geht ihm um Formen und Techniken der Repräsentation.
An die 20 Filme hat Beloufa bislang gedreht, und ein beeindruckend umfangreiches bildhauerisches Werk entsteht vor allem mit deren Präsentation: Der Künstler projiziert sie auf Sperrholzkojen, fahrende Karossen, Spiegel, Scheiben, zerlegt und fragmentiert die Bewegtbilder und verändert sie mit neuen Bewegungen. Er hat "Sichtungsumgebungen" geschaffen wie 2015 mit seinem "Jaguacuzzi", der 2016 in der Julia Stoschek Collection in Berlin ausgestellt war: "Künstlerraum, Modul, Display, Lounge und Skulptur in einem", wie es damals im Pressetext hieß, aber auf den ersten Blick vor allem eine Parodie auf einen vor angeberhafter Multimedialität strotzenden Messestand aus Sperrholz, Fiberglas und Stahl. Während sich die Betrachter in dieser immersiven Höhle durch das filmische Œuvre zappen, werden sie – meist unbemerkt – beim Betrachten gefilmt, die Überwachungskamera zoomt näher und überträgt diese Bilder auf einen Screen an der Außenwand des "Jaguacuzzi".
Neïl Beloufa – geschult an der Tradition des Expanded Cinema – verräumlicht unsere hybriden Medienumwelten, in denen kein Klick mehr unschuldig ist, sondern werberelevante Daten preisgibt, wo die User unbezahlt und trotzdem glücklich an den Inhalten von Social Media arbeiten, wo sich Sender-Empfänger-Beziehungen auflösen. Das tägliche Content-Gepansche passiert nicht in cleanen, halb debilen Like-Environments, sondern in leicht schmuddeligen, monströsen Apparaten, und so sehen Beloufas Sichtungsumgebungen auch aus: Nicht selten sind überlackierte Zigarettenstummel Teil der Installationen, es dominieren Brauntöne, und alles scheint immer etwas aus der Balance gekommen zu sein.
Umso bemerkenswerter, dass so ein Künstler mit "Occidental" wieder in den altmodischen Kinoraum zurückkehrte. Die Hotel-Schmonzette hinterließ einige Kritiker ratlos. Als ob der Künstler damit erneut einem Medium den Inhalt entzog, um das Medium selbst sichtbar zu machen: Er spielt mit Sprachklischees und Fernsehroutine, narrative Fährten werden gelegt und dann nicht weiterverfolgt. "Occidental" dreht sich um Fremdenangst, Terror-Paranoia, das Auseinanderdriften von Orient und Okzident, es geht um Stimmungen, gekünstelte Gesten, falsche Rhetorik und die Fünkchen Wahrheit, die das Strohfeuer hell aufflackern lassen.
2017 wurde Neïl Beloufa eingeladen, an einem Wettbewerb für ein öffentliches Denkmal für die Opfer der Auslandseinsätze des französischen Militärs teilzunehmen. "Ich habe superaggressive, vertrackte, perverse Projekte vorgeschlagen. Aber dann bin ich ausgeschieden. Die Ausstellung im Palais de Tokyo soll eine Antwort darauf sein. Statt die offizielle Repräsentation von Macht zu attackieren, arbeiten wir mit ihr und konfrontieren sie mit Kunst." Reproduktionen von Exponaten und Displays aus Militär- und Propagandamuseen waren in der Ausstellung mit dem größte Distanz wahrenden Titel "Der Feind meines Feindes" zu sehen, dazwischen Kunst, Statistiken und Daten und Roboter, die Ausstellungsstücke hin und her fahren.
Diese Ausstellung nannte Beloufa "ein Experiment, um den Widersprüchen zu entkommen." Das Scheitern war mit eingerechnet. Kein Problem für Neïl Beloufa: "Ich mag das Verlieren, das ist eine gute Position im Leben." Er zieht den Reißverschluss seiner Daunenweste hoch und steckt sich noch eine Zigarette an. "Gewinnen ist Selbstmord."
Dieser Text ist die leicht geänderte Fassung eines Artikels, der in Monopol 01/2018 erschienen ist