Kunstfestival in Gstaad

Schnitzeljagd in den Bergen

"Elevation 1049" versteckt großartige Kunst in der mondänen Alpenidylle von Gstaad

"Stellt euch einen Ort vor, hoch in den Bergen, und glückliche Bewohner, die wissen, dass sie nahe am Himmel wohnen …" Die behagliche Stimmung im Schweizer Bergdorf Gstaad lässt sich vielleicht am besten in Kinderbuchsprache umreißen: die putzigen Holzhäuser, die Eiszapfen, die in Pelz gehüllten Schneeköniginnen im Palace-Hotel, einem Schloss, das wie ein Hort des Bösen im Berg über dem Dorf sitzt. Rund um Weihnachten tummeln sich in dem bekanntesten Ort des Berner Oberlands bis zu 22.000 Menschen: Schüler des Eliteinternats Le Rosey, ihre Oligarchen- und Scheich-Eltern, Schweizer Wintersportler, Prominente in glänzenden Daunenjacken. Und jetzt, Anfang Februar, während die Weihnachtsdeko noch nicht abgeräumt ist, startet das Festival "Elevation 1049 – Avalanche" hier auf 1049 Höhenmetern eine Schnitzeljagd der Gegenwartskunst. Es dauert ein wenig, bis man begreift, wieso und für wen dieser Aufwand betrieben wird.

Die "Lawine" im Untertitel der von der Schweizer Luma-Stiftung und Privatmäzenen getragenen Open-Air-Ausstellung verrät erst mal nichts. Sie meint nicht etwa die Sehnsucht nach ein bisschen Untergang angesichts der düsteren Weltlage, sondern spielt auf das New Yorker Magazin "Avalanche" an, das in den 70ern über konzeptuelle und post-minimale Kunst informierte, über Künstler, die außerhalb ihres Ateliers arbeiteten. "Raus aus dem White Cube, rein in die weiße Pracht", wollen die Kuratoren Olympia Scarry und Neville Wakefield mit dieser Referenz eher sagen.

Und wie schön die Kunst vor dem Schnee und der Bergkulisse leuchtet! Von der ersten Ausgabe vor drei Jahren steht an einer Kreuzung im Tal noch ein von Ugo Rondinone in strahlendem Ultramarinblau gefärbtes Trafohäuschen. Man wollte es schon wieder übermalen, aber die Gstaader fanden es so toll, deshalb bleibt das jetzt so. Aber um die Produktion von monumentalen Wahrzeichen geht es den Kuratoren nicht: Ein Großteil der elf gezeigten Positionen in Gstaad und im umliegenden Saanenland – die meisten davon eigens produzierte Auftragswerke – sind flüchtige Soundarbeiten, Filme und Performances. Die Berge, die Täler, die Seen und das Eis – das ist das eigentliche Spektakel.

Es ist eine Freude, am Eröffnungswochenende die an die dreihundert geladenen Gäste am Saanerslochgrat, auf dem Weg zu einer Performance von Douglas Gordon und Morgane Tschiember, die Hänge herunterrutschen zu sehen, mit jedem Straucheln und Versinken im Tiefschnee die Haltung mehr und mehr aufgebend. Manche tragen nur Loafer und Jackett mit Seidenschal. Im Schnee lassen der schottische Künstler und seine französische Kollegin einen Ring aus Feuer legen, dazu schallt das Geheul von Wölfen aus Lautsprechern in das Tal hinunter. Eine kultische Handlung für einen toten Gott? Ein starkes Bild! Langsam steigt der Rauch auf und kriecht in die Kleider der Zuschauer, die blaugefroren den Hang zur Gondel wieder hinaufstapfen.

So eine archaische Wucht, zumindest aber eine urige Anmutung ist fast allen "Elevation 1049"-Werken gemeinsam: Allora & Calzadillas in einem Heuschober auf einem einsamem Feld gezeigter Film zoomt auf den Riss, der durch die Atmosphäre geht beim Fällen eines 250 Jahre alten Baumes; dann das ekstatische Licht- und Soundgewitter von Ryoji Ikeda in einem Festzelt; Cecilia Bengoleas Tanzperformance in einer kristallklaren, eisigen Nacht, die Tänzerin wie ein Irrlicht im Schnee …

Manches mutet wie ein Kampf mit den Gewalten an, und tatsächlich muss auch Bengoleas Performance an einen anderen Ort gezeigt werden als geplant, da witterungsbedingt Skilifte ausfallen. Auch den Totempfahl von Superflex auf dem Les-Diablerets-Gletscher auf 3000 Meter Höhe bleibt an den ersten Tagen wegen eines Schneesturms unbesuchbar. Stattdessen lädt das dänische Künstlerkollektiv zu einer Knochenmarksuppe an einem tiefergelegenen Hang und zeigt in einer Hütte einen Film, der als Porträt von Gstaad anfängt ("Stellt euch einen Ort vor, hoch in den Bergen …"), sich dann aber heillos in Bezügen und Bedeutung verheddert. Die Gäste schlürfen derweil Mark mit Trinkhalmen aus gigantischen Knochen, und auch diese Suppe steht in Verbindung mit dem Pfahl auf dem Gletscher und dem Großvater von Olympia Scarry, dem berühmten Kinderbuchautor Richard Scarry, und den Bartgeiern, die in den umgebenden Gipfeln wieder heimisch sind.

Für das Publikum ist "Elevation 1049" nicht so einfach zugänglich – geografisch und manchmal eben auch inhaltlich. Schon für die Eröffnungsgäste, die auf dem Mailalert-Verteiler stehen und BMW-Shuttles nutzen können, erfordert es Anstrengung, alles zu sehen. Olympia Scarry weist darauf hin, dass in Gstaad großartige Kunstsammlungen hinter verschlossenen Türen gehalten werden, ihre Ausstellung hingegen richte sich an alle. Doch ein Berliner Journalist, der im Saanenland Skiurlaub macht und nebenbei "Elveation 1049" anschauen will, berichtet von Schwierigkeiten, im Tourismusamt noch am Tag vor der Eröffnung Zeiten für die Performances oder eine zentrale Eröffnungsveranstaltung rauszukriegen. Wer also den Verdacht hatte, hier gehe es um Stadtmarkting für ein Ort, der auch nicht in so hoher Höhe liegt, dass er vom skifeindlichen Klimawandel nicht betroffen sein wird, kann sich schnell widerlegt sehen. Ein Blick in den "Anzeiger von Saanen" und auf die Website der Veranstalter bringt am Eröffnungstag schließlich Aufklärung: Dort stehen alle Zeiten für die Performances.

Eine von Sarah Morris mit leuchtenden Rastern beklebte Bahn, ein 54 Meter langer Triebwagen, der zwischen Montreux und Zweisimmen verkehrt, hätte dann doch das Zeug zu einem Wahrzeichen.

 

 

Aber wann und wo fährst sie ab? Manchmal wirkt es, als solle mit "Elevation 1049" die Autonomie der Kunst beglaubigt werden: Kunst und Berge, das ist ewig, alles andere ist nur Tand und Flitter. Diese Botschaft ist in Zeiten, in denen man bei jedem Eintreffen einer Eilmeldung auf dem Handy das Schlimmste fürchtet, nicht das Schlechteste.