Herr von Lowtzow, Ihre Band Tocotronic arbeitet gern mit Künstlern zusammen. Auch aus Sehnsucht, dem Verwertungssystem Musikindustrie mit seinen sturen Zyklen aus Albumveröffentlichung, Video, Tour etc. zu entkommen?
Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich halte es auch für gefährlich, ausgerechnet bei dieser Branche von Verwertungssystem zu reden. Da schwingt ein sehr defätistisches Verständnis mit. Ich glaube, das entscheidet doch jeder selbst, inwiefern er sich da verwerten lässt.
Sie haben Videos, Cover und Booklets von Künstlern wie Cosima von Bonin, Willem de Rooij, Jan Timme, Nina Könnemann oder Henrik Olesen gestalten lassen. Wie entstehen solche Kooperationen?
Der gestalterische Aspekt hat uns schon immer interessiert. Als wir angefangen haben, war der wichtiger als die Musik, weil wir kaum drei Töne spielen konnten. Aber irgendwann stößt man einfach an seine Grenzen, ganz klar. Und da finde ich es ganz unkrampfig, wenn man auf Leute zurückgreifen kann, denen man vertraut. Kernkompetenzen sind wichtig. Man muss nicht immer so ein Tausendsassa sein.
Gibt es eigentlich Strategien aus der bildenden Kunst, die eine Rockgruppe gebrauchen kann?
Es ist schwierig, künstlerische Praktiken auf Musik anzuwenden, aber ein gewisses Spiel mit Bedeutungen, wie es Künstler wie Marcel Broodthaers oder Marcel Duchamp vorgemacht haben, hat uns schon immer fasziniert. Wir lernen aber auch von anderen Musikern oder von Theaterautoren wie René Pollesch. Leute, bei denen man das Gefühl hat, dass man ungefähr auf einer Wellenlänge ist.
Welches Künstlerbild entwirft Tocotronic in Liedern wie „Keine Meisterwerke mehr“?
O Gott! Auf jeden Fall ist es ein Gegenentwurf zum autoritären, selbstbewussten, männlichen Künstlersubjekt. Es geht darum, auszustellen, auf was für einem dünnen Eis man sich selbst bewegt, darum, Begriffe wie „Kreativität“ oder „künstlerische Potenz“ infrage zu stellen. Und um Autorschaft, was ich speziell bei Rockmusik für bemerkenswert halte, weil ja alles schon einmal gemacht worden ist.
Trotzdem weist das Künstlerbild bei Tocotronic Spuren des leidenden Künstlers auf.
Finde ich nicht.
„Die Folter endet nie“ heißt die aktuelle Single.
Aber das ist doch eine Tatsache, ganz sachlich festgehalten. Und das Lied ruft auch zum Widerstand auf. Bei uns ist vieles ja auch witzig gemeint. Wir sind doch nicht Coldplay, wo ein Künstlersubjekt an der Welt verzweifelt und wimmert. Das würde ich ganz entschieden von uns weisen, weil uns das überhaupt nicht interessiert.
„Schall & Wahn“ kam heraus, als die Diskussion über die Autorin Helene Hegemann hochkochte. Der Song „Das Blut an meinen Händen“ klingt fast wie eine Apologie.
Auch an dieser Debatte hat man gesehen, wie sich die Volksseele erhitzt, wenn jemand sich nicht diesem stark authentizitätsgeprägten Imperativ beugt. Das „Vergehen“ von Helene war ja das Allerharmloseste, denn seit Tausenden von Jahren kopieren Schriftsteller voneinander.
Beobachten Sie diese Feier des Authentischen auch in der bildenden Kunst?
Mit Sicherheit! Die 90er-Jahre waren noch geprägt von einer theorielastigen, kontextuellen Kunstbetrachtung. Und dann gab es schon einen shift: Markterfolg ist gleich Qualität, hieß es nun. Und man will wieder männliche, weiße Künstlersubjekte, die Genie versprühen.
Wie in der Rockmusik.
Das hat natürlich eine unglaublich langweilige Kunst hervorgebracht. Ich habe aber das Gefühl, dass die langsam wieder auf dem Rückzug ist, denn dieses Herumreiten auf biografischen Fakten der Künstlerinnen und Künstler – ob dieser oder jener Maler zufällig Hausbesetzer war oder nicht –, das gibt einfach auf Dauer nicht so viel her. Aber auch heute hat man ja teilweise so ein Eliteverständnis.
Künstler wurden Vorbilder für Unternehmertypen, die ungeheuren symbolischen Wert erzeugen.
Klar, in der postfordistischen Gesellschaft ist derjenige der größte Künstler, der am meisten Netzwerkkapital anhäufen kann und am sichtbarsten ist. Beziehungen sind die Währung, bestimmt. Aber ich bin ja kein Soziologe.
Aber Sie schreiben auch über Kunst, in Katalogen und in der Zeitschrift „Texte zur Kunst“. Was macht guten Kunstjournalismus aus?
Grundsätzlich: Vive la critique! Kritik wirkt im affirmativen Kunstsystem fast schon wie ein Streik, weil alles fließen soll. Auf der anderen Seite bedürfen sogar Künstlerinnen und Künstler, die Erfolg nur am Markt haben, irgendwann einer kritischen und kunsthistorischen Legitimierung. Insofern ist Kritik auch ambivalent: Es ist heute sehr schwierig, Kunstkritik innerhalb des Systems zu formulieren, andererseits bedeutet sie für das System mehr als je zuvor. Mir selber würde ich eine andere Rolle zuweisen, weil ich nicht Kunstkritiker bin, sondern zu 98 Prozent Rockmusiker. Ich bin eben auch durch Kollaborationen und Freundschaften nicht so objektiv.