Buch über Wohnen im Ruhrgebiet

Können Häuser Problemlöser sein?

Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau: Der "Atlas Ruhrgebiet" stellt historische Siedlungen im größten deutschen Ballungsraum vor. Bei manchen kann man heute nur neidisch sein, aus anderen lässt sich viel lernen 

Vermutlich wäre es nicht so schwierig gewesen, ein einziges Coffeetable-Book voller Ruhrgebiets-Coolness zu machen. Und tatsächlich: "Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau! Liebst dich ohne Schminke, bist ne ehrliche Haut, leider total verbaut, aber gerade das macht dich aus!", wird da Herbert Grönemeyer mit seinem Lied "Bochum" auf dem Buchrücken zitiert. Es kommt ja auch vor, das Grau der Metropolregion, dem man als Kenner natürlich eher affirmativ gegenübertritt - wie den teils klotzigen, im besten Sinne großen Wohnungsbauten im Inneren. Aber der "Atlas Ruhrgebiet", herausgegeben von Moritz Henkel, belässt es nicht dabei. 

Streng genommen ist es nicht einmal ein Atlas, also ein auf Vollständigkeit bedachter Überblick der Region. Das Wohnen als Programm verbindet die einzelnen Vorhaben, die Auswahl von der im Untertitel genannten Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau bleibt aber bewusst unvollständig. Es geht darum, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, wie Anna Jessen und Ingemar Vollenweider vom Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund in ihrem Aufsatz schreiben: Die vorliegende Dokumentation des Forschungsprojekts zeigt eine kompakte, aber unvollständige Auswahl von Wohnungsbauten, die über fünf historische Epochen hinweg im Ruhrgebiet errichtet worden sind. Darunter auch solche, die zwischenzeitlich abgerissen wurden oder akut vom Abriss bedroht sind (wie das Habiflex von Richard Gottlob und Horst Klement).

Auf einige erfolgreich umgesetzte Vorhaben kann man heute nur mit Neid blicken. Der Bau kompletter Arbeitersiedlungen zum Beispiel erscheint dieser Tage geradezu utopisch. Wer würde heute prekär Beschäftigten (oder auch einer unteren Mittelschicht) nicht nur eine Behausung, sondern ein tatsächliches Haus mitsamt Garten und Erholungsflächen auf die grüne Wiese bauen? Von Rentnerinnen und Rentnern, die sie ihrerzeit in der Kolonie Altenhof eine unentgeltliche Altersunterkunft erhielten, ganz zu schweigen. 

Häuser mit verschiebbaren Innenwänden

Doch war all dies eben auch keine reine Wohlfahrtsangelegenheit, sondern ergab sich aus der ökonomischen Situation. Arbeiter und Arbeiterinnen wurden von Krupp und anderen Industrieunternehmen seinerzeit dringend gebraucht. Die Bindung an ein Unternehmen galt mitunter ein Arbeitsleben lang ("I owe my soul to the company store", sang Merle Trevis 1947 in den USA). Heute kann man allenfalls als hoch bezahlter Expat hoffen, vom Chef eine temporäre Wohnung in der Großstadt vermittelt (und bezahlt) zu bekommen.

Der "Atlas Ruhrgebiet" dokumentiert jeden Wohnungsbau in Fotografien, Zeichnungen und Typologien; jede Fenster-, Gewerbe- und Wohnfläche wurde für diesen Überblick erfasst. Das ermöglicht bei allen Unterschieden eine Vergleichbarkeit, die man im reinen Fotobuch so nicht kennt: Von den Reformblöcken wie der Lenteninsel von Dietrich und Karl Schulze, die das Dortmunder Stadtbild des 20. Jahrhunderts geprägt haben, über Wohntürme der 1950er-Jahre bis zu den sagenhaften Beispielen des experimentellen Wohnungsbaus der 1970er-Jahre. Darunter das Hügelhaus von Peter Faller und Hermann Schröder oder das schon angesprochene Habiflex, dessen Bewohnerinnen und Bewohner ihren Wohnraum dank verschiebbarer Innenwände immer wieder umgestalten können.

Es liegt nahe, in diesem Buch voller selbstbewusster Beispiele nun nach (schnellen) Antworten auf die grassierende Wohnungsnot zu suchen. Was dann zwangsläufig zum oben schon anklingenden Vergleich von Äpfeln mit Birnen führen muss. Denn der gesellschaftspolitische Kontext, aus dem heraus jene Wohnungsbauten entstanden sind, ist natürlich ein spezifischer. 

Lernen aus schief Gelaufenem

Kein Grund in jedem Fall, die Politik heute von ihren Aufgaben entbinden – gerade kommunal wäre hier theoretisch so viel mehr möglich. Wenig spräche dagegen, erst einmal Erstwohnsitze zu sichern, wie es in Helsinki oder Kopenhagen üblich ist, statt knappen Wohnraum und Grund für Zweitwohnsitz- und Investmentbauten herzugeben. Oder: Wohnungsbauten, wenn sie denn einmal realisiert werden, gleich anders zu denken.

Als Problemlöserin sei die Architektur viel zu langsam, erinnern auch die Buchautorinnen und Autoren. Aber der "Atlas Ruhrgebiet" eignet sich trotzdem als Anschauung. Vielleicht können Mut und Einfallsreichtum, mit dem man im Kohlenpott einst größere Würfe in Sachen Wohnungsbau vorangetrieben hat, als Vorbilder dienen. Und weil dies kein Coffeetable-Buch ist, dessen Inhalte primär gut ausschauen sollen, lässt sich wohl auch aus schief gelaufenen Wohnungsbauten lernen. Im Sinne eines "positiven wie negativen Wissens", wie Moritz Henkel im Einführungstext schreibt.