Çağla Ilk, am Sonntag endet die 60. Kunstbiennale in Venedig. Sie haben den Deutschen Pavillon mit der Ausstellung "Thresholds" kuratiert. Wie oft waren Sie seit der Eröffnung im April 2024 vor Ort?
Mindestens zweimal pro Monat. Die Ausstellung, die wir im Pavillon und auf der Insel La Certosa gemacht haben, musste lebendig gehalten werden. Man musste sich darum kümmern. Ich habe bei vergangenen Biennalen in anderen Pavillons oft Ausstellungen gesehen, bei denen zwei Monate nach Eröffnung Dinge nicht mehr funktioniert haben. Das wäre für mich eine unerträgliche Situation. Es sollte immer so aussehen und erfahrbar sein, wie es sich zur Eröffnung dargestellt hat. Deshalb war ich sehr oft da.
Sie haben also auch im lateinischen Wortsinne kuratiert, curare bedeutet ja "Sorgen für, sich kümmern um." Welche der ausgestellten Werke waren besonders fragil?
Die Betreuung der vier Werke von Michael Akstaller, Nicole L'Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner war sehr aufwendig. Ihre Soundarbeiten waren alle auf der Insel La Certosa im öffentlichen Raum präsent und die Wetterbedingungen - mal zu heiß, mal zu regnerisch - entsprechend ein Risiko. Im Pavillon hat es ein paarmal so heftig geregnet, dass wir technisches Equipment ausschalten und neu installieren mussten. Aber wir hatten keinen Tag geschlossen. Wir haben die Ausstellung über sechseinhalb Monate am Leben gehalten. Das war eine große Teamarbeit, eine große gemeinsame Erfahrung.
Im März 2023 wurde bekannt, dass Sie den Deutschen Pavillon kuratieren werden. Was hat Sie im Zuge der Arbeit überrascht?
Dass so viele Menschen den Pavillon besucht haben. Wir waren der meistbesuchte Pavillon. Mit diesem Erfolg habe ich nicht gerechnet.
Gibt es schon konkrete Zahlen? Wie viele Menschen haben den Deutschen Pavillon seit Eröffnung besucht?
Das kann ich noch nicht sagen. An einem Samstag im November waren es 15.200 Leute. Das war krass.
Und wie waren die Reaktionen von den Besuchenden?
Die meisten Reaktionen waren sehr positiv. Ersan Mondtag hat sich in seinem "Monument eines unbekannten Menschen" der Geschichte seines Großvaters gewidmet, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam und kurz nach seiner Pensionierung an Lungenkrebs starb. Ersan hat aus Deutschland auch negative E-Mails bekommen, die betonten, dass es noch viele weitere Geschichten und Schicksale geben würde, die noch nicht erzählt sind. Überwiegend erreichten uns sehr schöne Nachrichten aus aller Welt. Viele sind sehr berührt wieder herausgegangen.
Was die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler im staubigen Haus von Ersan Mondtag im Pavillon leisten, produzierte intensive Momente, die auch bei mir noch nachhallen. Beim islamischen Beerdigungsritual des nackten Großvaters war ich während der Preview nicht die einzige auf dem Dach des Hauses, die Tränen in den Augen hatte.
Das ist für viele sehr emotional gewesen. Auch das Thema der Ausbeutung von Körpern. Ich habe das sowohl mit Menschen aus der Türkei als auch aus Deutschland angeschaut. Das war schön, dass es über die Nationen hinaus berührt hat. Ich habe selbst viele Führungen gegeben, Besuchende zum Teil auch spontan angesprochen, ebenso wie die Künstlerinnen und Künstler, wenn sie vor Ort waren. Es gab eine Kritik, die ich erwartet habe: Eine Besucherin im Rollstuhl konnte die Installation in dem tropfenförmigen Gebäude von Ersan Mondtag nicht besuchen. Wir hatten eine Rampe rund um den Tropfen geplant und konnten diese aus Kostengründen nicht realisieren. Ich habe sehr bereut, dass das nicht möglich war.
Die internationale und nationale Presse hat den Pavillon überwiegend wohlwollend besprochen. Gab es Dinge, die aus Ihrer Sicht missverstanden wurden?
Es gab keine Missverständnisse, aber bestimmte Aspekte sind nicht tief genug ausgeleuchtet worden. Yael Bartana hat in verschiedenen Medien die Idee eines Raumschiffes für mehrere Generationen durchgespielt. Dieses "Light to the Nations", benannt nach einer Passage aus dem Buch Jesaja, war so ausgelegt, dass viele Menschen über Jahrtausende darin leben könnten, während sich die Erde selbst repariert. Es wurde oft kritisiert, dass sie bestimmte Ästhetiken, etwa von Leni Riefenstahl, wiederholt hat. Da hätte ich mir mehr Diskussionen darüber gewünscht, welche Ebenen in der künstlerischen Ästhetik aufgemacht wurden. Davon abgesehen fühle ich mich sehr verstanden. Viele Menschen haben sich die Mühe gemacht zu verstehen, was wir erzählen wollten. Das internationale Fachpublikum hatte Vorbehalte gegenüber dem Deutschen Pavillon, weil sie ihn mit dem deutschen Staat und seiner Politik identifizieren. Viele haben den Unterschied nicht gesehen. Auch die Jury für den Goldenen Löwen hat den Deutschen Pavillon nur kurz besucht und sich die Performance von Ersan Mondtag nicht einmal angeschaut. Sie hatten kein Interesse und haben sich keine Zeit genommen. Das war eine politische Entscheidung.
Das tropfenförmige Haus von Mondtag wurde regelmäßig zur Bühne. Unbeeindruckt von den Besuchenden ging eine fünfköpfige Familie ihrem Alltag nach: Ein zunächst nackter Mann stieg in Unterhose und Blaumann, eine Frau geisterte mit Kittelschürze und Kopftuch durchs Haus und putzte einer Besucherin die Schuhe. Kunst und Theater verschmolzen zu einer neuen Erfahrung. Das Biennale-Publikum kam den Schauspielenden in diesem begehbaren Bühnenbild auch in den intimsten Momenten nah. Das Paar lag im Bett, die Tochter benutzte die Toilette – inklusive Spülgeräusch. 32 Minuten ging das Stück, zur Preview lief es mehrmals am Tag. Warum wurde die Performance während der Laufzeit nicht täglich gezeigt?
Bis Ende April war es ein Team aus Deutschland, das die Performance bis zu achtmal am Tag aufgeführt hat. Dann hat eine Gruppe aus Venedig übernommen. Im Sommer gab es eine Pause, weil es einfach zu heiß war. Im September haben wir es noch einmal gemacht und jetzt zum Ende wieder. Es gab bewusst zwei verschiedene Modi.
Warum brauchte es überhaupt zwei verschiedene Teams?
Die Schauspielerinnen und Schauspieler aus Deutschland haben die Choreografie mit Ersan Mondtag entwickelt. Ersan arbeitet schon seit langem mit ihnen zusammen. Frank Büttner, der Hasan Aygün, den Großvater von Ersan Mondtag verkörpert, kommt aus der DDR, war selbst Arbeiter. Es war extrem wichtig für die Erarbeitung der Choreografie, dass es diesen persönlichen Bezug zum Thema gab. Wenn es einmal entwickelt ist, kann man es immer wieder spielen. Mir ist wichtig, dass die Schauspielenden aus Venedig kein B-Cast sind. Das wäre nicht gerecht. Der italienische Cast hat die deutschen Kolleginnen während der Aufführung erlebt und zum Teil auch schon mitgemacht.
Ich habe mich sehr über die Bezüge zur Geschichte Ostdeutschlands im Beitrag von Ersan Mondtag gefreut: Neben Frank Büttner standen Bücher von Christa Wolf und Lyrik aus der DDR im Bücherregal. Die Kleidung war an Schnittmuster aus der DDR-Zeitschrift "Pramo" angelehnt, und die Durchreiche typisch für Plattenbauten. Als Geste der Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen transferierte Mondtag zudem abgenutztes Fischgrät-Parkett aus einem Eisenbahner-Klubhaus im brandenburgischen Kirchmöser in den Pavillon nach Venedig. Diese Verweise waren sehr subtil und fanden sich entsprechend kaum in der Berichterstattung. War das Absicht?
Die Wohnung in der ersten Etage des Tropfens erinnert an eine Plattenbauwohnung, wie sie typisch in der DDR waren. Das war für viele Besuchende aus Deutschland sehr klar. Und viele hat sie in diesem Sinne irritiert: Was sucht eine Familie mit Migrationshintergrund hier? Das waren zwei Realitäten, was ich extrem gut finde. Für das internationale Publikum war es sicher nicht so klar, auch nicht für jüngere Menschen. Das alles auf ostdeutschem Boden steht, haben wir immer wieder erklärt. Der Hauptraum war ein grabähnlicher Innenraum mit der Arbeit "Farewell" von Yael und Ersans Tropfen. Und es hat überall gebröckelt.
Auf dem Dach des Tropfen-Hauses lief ein Video, in dem Frank Büttner, beziehungsweise der Großvater, sich selbst eine Art Grab schaufelt. Für mein Empfinden hat das der Choreografie der lebendigen Darsteller die Kraft genommen.
Das war eine künstlerische Entscheidung von Ersan. Er wollte unbedingt, dass Frank dauerhaft präsent ist, auch in den Zeiten, in denen die performativen Körper in der Installation abwesend waren. Ich wollte das Video am Ende des Parcours auf dem Dach haben. Die museale Darstellung seiner Person mit dem Inhalt des Portemonnaies zu Beginn ist extrem wichtig und macht die Person greifbar wie universell. In der Performance stirbt der Großvater am Ende und schaut vom Dach auf die Lagune. Ersans Großvater ist ohne Familie aufgewachsen und hat als Kind oft auf dem Boden geschlafen. Er hat nicht zuerst Eternit für seine schlechte Lunge verantwortlich gemacht. Er hat immer gesagt: "Ich habe so schlechte Lungen, weil ich als Kind auf dem Boden geschlafen habe." Wir waren während der Vorbereitungen alle zusammen auf der Insel La Certosa. Das war für uns der Ort, der alles miteinander verbindet. Frank Büttner gräbt sich auf dieser Insel sein eigenes Grab. Das ist sehr metaphorisch und auch pathetisch.
Wenn zum Tod des Großvaters Musik von Johann Sebastian Bach durch den Pavillon klingt, wird dessen Apsis zum christlichen Andachtsraum.
Interessant, dass Sie das so gehört haben. Das war aber nicht Bach. Der Choral ist, wie alles im Pavillon, eine Komposition von Beni Brachtel, eingespielt von den Münchner Symphonikern. Es handelt sich um eine Vertonung eines Gedichts von Albert Ostermaier, das der für Ersans Arbeit geschrieben hat. Von christlicher Andacht ist der Ritus einer muslimischen Beerdigung weit entfernt. Aber ich denke, es gibt eine interreligiöse Sprache der Sakralität. Sowohl Ersan als auch Yael arbeiten mit dem Gestus von Sakralität, um an Emotionen, Sehnsüchte und Erinnerungsfragmente der Zuschauenden anzuknüpfen. Auf dem Dach mischt sich Beni Brachtels Choral mit dem Sound, den Dani Meir zu Yaels Raumschiff komponiert hat. Es ist ein interreligiöser Dialog zweier nicht religiöser Künstler.
Vielen Dank für diese Erklärung! Mit dem Wasserbus gerade einmal zwei Stationen vom Ausstellungsgelände entfernt waren die Soundarbeiten von Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Jan St. Werner und Robert Lippok zu erleben. Heute ist die Insel öffentlich zugänglicher Park der Stadt Venedig. Kaum bebaut begrüßt sie mit viel Grün. Ich war schon oft in Venedig, aber nun zum ersten Mal auf der Insel. Wie viele Menschen haben die Insel in den letzten Monaten besucht?
Laut den Menschen, die auf der Insel arbeiten, so viele wie nie. Aber niemand hat gezählt.
Wäre es eine Option gewesen, nur die Insel La Certosa zu bespielen?
Das haben mich Ersan und Yael auch gefragt. Nein, das wäre auch der Idee von Maria Eichhorn, die den Pavillon translozieren wollte, zu ähnlich gewesen. Darauf wollte ich eher aufbauen. Wir haben Erde aus dem Heimatdorf von Ersans Großvater ins Fundament gestreut, das Maria Eichhorn offengelegt hatte. Wir haben uns mit dem auseinandergesetzt, was vor uns da war. Und italienische Erde, die symbolisch aus der Türkei kommt, blockierte den Eingang zum Pavillon.
Was wird von "Thresholds" bleiben? Wird es etwa ein Buch mit Ausstellungsansichten geben? Wird Mondtags Werk in Deutschland aufgeführt?
Es wird einen Katalog und Editionen zum Pavillon geben. Und wir wollen das Werk gern in auch Deutschland aufführen.
Sie haben den Deutsche Pavillon zur Bühne für die Beiträge von Ersan Mondtag und Yael Bartana erklärt. Letzte Woche wurde bekannt, dass Sie 2026 die Intendanz des Maxim Gorki Theaters in Berlin übernehmen. Werden Sie Ihre Erfahrungen aus Venedig in die Arbeit am Theater einbringen?
Theater hat eine andere Geschwindigkeit und eine andere Kollektivität, was ich sehr schätze. Vom Theater ausgehend kann man weitere Sachen entwickeln, wie wir es auch in Venedig gemacht haben. Ich brauche eine gute Struktur für eine über die Disziplinen hinausgehende kulturpolitische Vision. Diese kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar ausformulieren. Ein Teil der Vision findet sich im Deutschen Pavillon. Das Gorki wird ein Ort der politischen und ästhetischen Suche nach einer neuen Gesellschaft mit den Zuschauern und vielen Protagonisten in Berlin werden. Wir müssen Momente schaffen, an die die Menschen noch in 20 Jahren denken. Daran glaube ich fest.
Der Titel ihrer Ausstellung war im übertragenen Sinne "Schwellen". Nun stehen Sie selbst wieder an einer Schwelle. Seit 2020 leitet sie die Kunsthalle in Baden-Baden – zunächst als Co-Direktorin, seit einigen Monaten allein. Dort läuft ihr Vertrag Ende April 2025 aus. Dies steht in Zusammenhang mit der geplanten Umnutzung der Kunsthalle als Interimsspielstätte für das Badische Landesmuseum Karlsruhe während der Sanierung des Karlsruher Schlosses. Darum gab es eine intensive Debatte. Wie blicken Sie auf die Entscheidung?
Das ist für mich skandalös. Man hätte andere Vorschläge machen können. Meiner Ansicht nach hat die Politik diese Angelegenheit genutzt, um den für sie gefährlichen Ort für zeitgenössische Kunst für eine gewisse Zeit dicht zu machen. Mit mir wurde nicht darüber gesprochen. Ich habe zwei Tage vor Veröffentlichung erfahren, dass eine andere Institution in die Gebäude zieht. Es zeigt, wie Politik in schweren Zeiten agiert, nicht versteht, was für eine Bedeutung zeitgenössische Kunst hat. Wir müssen gerade so viele schwere Momente verarbeiten und zeitgenössische Kunst kann dabei helfen. Ich finde es fatal, diese Orte nicht zu bewahren. Diese Entscheidung zu treffen, ohne mit den beiden betreffenden Häusern zu sprechen, ist sehr patriarchal. Ich finde das schade, weil ich das gern weiter gemacht hätte.
Ja?
Ich habe dort ein neues Team aufgebaut. Was wir in Venedig gemacht haben, haben wir in Baden-Baden erprobt. Yael Bartana und Ersan Montag waren beide da. Wir haben viele gute Ausstellungen gemacht. Baden-Baden ist eine kleine Stadt. Für mich war es immer wichtig, auch in der Provinz tätig zu sein und dort neue Formen zu erproben. Das, was wir dort gemacht haben, hat mich für die Kuration des Deutschen Pavillons qualifiziert. Einen Tag, nachdem mein Vertrag in Baden-Baden nicht verlängert wurde, kam der Anruf aus Berlin. Jetzt freue mich sehr auf die Arbeit dort. Ich habe schon ein paar Jahre am Gorki gearbeitet, ich kenne die Strukturen.
Wann geht es in Berlin los?
Es gibt keine Pause. Ich bin ab 1. Mai 2025 designierte Intendantin. Es gibt sehr viel zu tun. Ich bereite nun in meiner freien Zeit schon viel vor und dann geht es mit 180 Prozent los.
Der "Tagesspiegel" formulierte: Dass Joe Chialo die Wahl ohne Findungskommission getroffen habe, würde "befremden". Befremdet Sie das auch?
Es wäre gut, wenn es eine Kommission gegeben hätte. In der Kunstwelt ist es üblich, in der Theaterwelt jedoch nicht. Shermin Langhoff ist damals auch von einem Tag auf den anderen berufen worden. Mein Abschied aus der Kunsthalle war kurzfristig und unerwartet und hat den Senator zu dieser Berufung bewegt. Ich hatte auch andere Anfragen, insofern musste Berlin sich beeilen. In der Kunsthalle Baden-Baden wurden Misal Adnan Yıldız und ich über ein Verfahren ausgewählt, ähnlich wie ich als Kuration des Deutschen Pavillons.
Der Bühnenverein hat im letzten Jahr einen Leitfaden für Intendanzfindung vorgelegt.
Am Theater braucht das noch Zeit und muss sich entwickeln. Ich kenne niemanden, der im Theaterkontext eine Findungskommision hatte. Weil ich als weibliche Person aus der bildenden Kunst komme, werde ich jetzt am Theater von bestimmten Kritikern nicht herzlich willkommen. Es gab wohl keine andere Kritik an mir. Die 15.200 Besucher an einem Samstag im Deutschen Pavillon sprechen doch sehr für mich.