Mega-Ausstellung "PST Art" in Kalifornien

Kollisionen der Superlative

Die Ausstellungsserie "PST Art" in Südkalifornien ist die wahrscheinlich größte konzertierte Kunstaktion der USA. Gerade treffen sich dort amerikanische Hybris, der Geist von Joseph Beuys und die Lust am Clash der Disziplinen

Die verstümmelte Fratze eines Sonnengottes mit herausgestreckter Zunge, die die Form eines Opfermessers hat. Umgeben ist das furchteinflößende Gesicht auf dem runden Basaltstein mit dreieinhalb Metern Durchmesser von Hieroglyphenzeichen für die vier "Sonnen" oder Weltzeitalter. In konzentrischen Kreisen verteilen sich acht Spitzen, die die Strahlen des Himmelskörpers symbolisieren. 

Der 1790 entdeckte "Sonnenstein", einst eine Skulptur des Haupttempels von Tenochtitlán, dem aztekischen Vorläufer des heutigen Mexiko-Stadt, befindet sich heute im Nationalmuseum für Anthropologie und Geschichte in der mexikanischen Hauptstadt. Das faszinierende Stück, dessen Funktion bis heute nicht restlos geklärt ist und das oft fälschlich als "Kalenderstein" bezeichnet wurde, ist einer der Stars des 35-minütigen Films "Pacific Standard Universe". 

Der Streifen ist der Beitrag des Griffith Observatory, der legendären Sternwarte auf der Südseite des Mount Hollywood, zur gigantischen Ausstellungsserie "PST Art". Zu dem Unterfangen haben sich in diesem Herbst 70 südkalifornische Kunstmuseen und Institutionen auf Initiative des Getty Institutes im Stadtteil Brentwood in Los Angeles zusammengeschlossen. Glaubt man dem Eigenlob des Getty, ist es die größte konzertierte Kunstaktion in den USA jemals. 

Prähistorische Animationen 

Der Film "Pacific Standard Universe" untersucht, wie die Menschen durch alle Zeiten und Kulturen den Kosmos abbildeten. Der Versuch, die universale Ordnung präzise wiederzugeben, gerann jedoch meist zu eher symbolischen Bildern des Unermesslichen - wie dem "Sonnenstein". In prähistorischen Zeiten arbeiteten die Menschen ebenso mit Analogien und Animationen wie die moderne Astronomie heute. So wie beispielsweise die Forscher um Edward Hubble und Vesto Slipher in den 1920er-Jahren. In dem kaum 37 Meilen (rund 60 Kilometer) vom Griffith entfernten Mount Wilson Observatory entwickelten sie ihre Theorie vom expandierenden Universum. 

Der mexikanische "Sonnenstein" ist ein frühes Beispiel für das Motto "Art & Science Collide", das die Stationen der "PST Art" nun zusammenhalten soll. In seiner Mischung aus Skalierung und Fiktion ist das Artefakt längst zur Nationalikone des Landes und seiner Populärkultur avanciert; im Grunde ein Hybrid aus Kunst und Wissenschaft.

Die Kollision dieser beiden Sphären zieht sich wie ein roter Faden durch den Ausstellungsverbund, dessen Entstehen das Getty vor fünf Jahren mit 20 Millionen Dollar initiierte und an dem mehr als 818 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt in über 50 Ausstellungen von San Diego bis Santa Barbara beteiligt sind. Das Programm reicht von der kulturhistorischen Repräsentativ-Ausstellung "Lumen. The Art and Science of Light" im Getty-Museum, die die Überlappung der Rolle des Lichts in Religion und Wissenschaft untersucht, bis zur Schau "Cyberpunk" im Museum der Oscar-Akademie. Anhand von Filmen wie "Blade Runner" und "Matrix" spürt diese dem Einfluss der Science-Fiction auf den Film nach.

 

Mit der damals noch "Pacific Standard Time" genannten Schau begnügte sich das Getty 2011 noch damit, den Beitrag der US-Westküste zur Abstraktion und Pop Art von 1945 bis 1980 auf die Landkarte der Weltkunst zu setzen. Die dritte Ausgabe des nun auf das Kürzel "PST Art" zusammengeschnurrten Kunst-Events mag die seitdem rapide gewachsene kulturelle Hybris der Region zum Ausdruck bringen. "Los Angeles right now is the most creative city on earth at any time in history", prahlte Michael Govan, Direktor des Los Angeles County Museum of Art (LACMA) zur Eröffnung in einem eigens produzierten Promo-Video vor hunderten von Gästen.

Womit er die südkalifornische Städtegalaxie noch vor dem historischen Florenz der Medici oder dem zeitgenössischen Riad von Kronprinz Mohammed bin-Salman platzierte. Kleiner hat man es in Kalifornien halt nicht. Ganz unrecht hat der Museumsmann damit freilich auch nicht. Schließlich ist der bevölkerungsreichste US-Bundesstaat längst die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, noch vor Großbritannien, Frankreich und Indien. Das Silicon Valley gilt als die High-Tech-Kreativschmiede der Welt. Jeder zehnte Job in Kalifornien findet sich inzwischen in den berüchtigten creative industries. Das künstlerische Lumpenproletariat ist da noch nicht mitgerechnet.

Mit "Art & Science Collide" folgt das Getty dem derzeitigen weltweiten Trend zur künstlerischen Forschung. Anders als in Europa, wo dieses Thema noch ein Nischendasein frönt, geht "PST" die Entwicklung erfrischend vorurteilslos und ohne Scheuklappen an. Eine derart gigantische Vermessung des Spannungsfeldes zweier scheinbar entgegengesetzter Sphären sah der Planet bislang noch nie. 

L.A. als paradigmatischer Ort

Die Berliner "Fortschrittskoalition", die derzeit noch beim kleinsten Versuch taumelt, dem verunsicherten Wahlvolk wenigstens ein paar harmlose Öko-Reparaturen schmackhaft zu machen, fände hier nicht nur eine umfassende Beschreibung der Misere des versehrten Planeten, sondern Reform-Stoff für mehrere Legislaturperioden. Der Schauplatz für "PST Art" ist kein Zufall: Wenn die Kollaboration, mitunter gar die Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft auf der Welt einen Ort hat, dann Südkalifornien. L.A. ist ein paradigmatischer Ort für die Kollision von Physik und Metaphysik. Seit Jahrzehnten ist die Region Schauplatz der wechselseitigen Katalyse von Kunst, Imagination, Okkultismus, Nuklearphysik, Luft- und Raumfahrtindustrie.  

In der Stadt entwickelte sich beispielsweise in den 1940er-Jahren ein alternatives Science-Fiction-Milieu, das zeitweilig eine bizarre Verbindung mit der damaligen schwulen Subkultur einging, wie eine der spannendsten Ausstellungen von "PST Art" zeigt: "Sci-fi, Magick, Queer LA: Sexual Science and the Imagi-Nation" im Fisher Museum der University of Southern California. Während einst Albert Einstein an der privaten Spitzenuniversität California Institute of Technology (CalTech) Vorlesungen über fotoelektrische Gleichungen hielt, betätigte sich die kanadisch-amerikanische Evangelistin Aimee Elizabeth Semple McPherson in Pasadena als Teufelsaustreiberin und hielt Sonntagspredigten in Flugzeugen. 

Last, but not least legten der CalTech-Raketenpionier John Parsons und der Marineoffizier Ron Hubbard mit dem vom Satanisten Alistair Crowley beeinflussten Ordo Templi Orientis (OTO) das Fundament für die Mixtur aus schwarzer Magie, Psychotherapie und Science-Fiction, die später unter dem Namen Scientology von Südkalifornien ihren globalen Siegeszug antrat. "PST Art" ist voll von Entdeckungen dieser Kollisionen. Die Ausstellung "Sensing the Future: Experiments in Art and Technology" erinnert daran, wie die Avantgarde-Künstler Robert Rauschenberg und Robert Whitman 1966 mit den Ingenieuren Billy Klüver und Fred Waldhauer die Gruppe E.A.T. – Experiments in Arts and Technology gründeten. 

Der Computer als Instrument für progressiven sozialen Wandel

Die Ausstellung "Arteônica" im Museum of Latin American Art in Long Beach nimmt die gleichnamige Bewegung zum Ausgangspunkt, die der brasilianische Computerkunst-Pionier Waldemar Cordeiro in den 1970er-Jahren initiierte. Der Kreis um den Künstler sah den PC als Instrument für progressiven sozialen Wandel und die Demokratisierung von Kunst und Kultur. Die Ausstellung spürt dem Echo von Arteônica in der lateinamerikanischen Kreativproduktion von heute nach.

Selbst die seismischen Aktivitäten des Pacific Rim, der Küstenländer rund um den Pazifischen Ozean, inspirierten Künstler. 16 von ihnen übersetzen in der Ausstellung "Energy Fields: Vibrations of the Pacific" der privaten Chapman-Universität im Orange County die ungeheure Dynamik des tektonischen Geschehens in faszinierende Kunst. Eine der wirklichen Entdeckungen von PST Art ist die Schau "(Un)disciplinary tactics". Mit dem Werk der 1974 in Berlin geborenen, 2012 mit 39 Jahren in New York sehr früh an Krebs gestorbenen Künstlerin Beatriz da Costa erinnert die Municipal Art Gallery Los Angeles an eine Art künstlerische Forschung avant la lettre

Die ausgestopften Tauben auf Sockeln im Ausstellungsraum erinnern an da Costas "PigeonBlog" - ein Projekt, das die Künstlerin zusammen mit Ingenieurinnen, anderen Künstlern und Wissenschaftlerinnen entwickelte, um Luftverschmutzungsdaten in Kalifornien zu erheben. Die Tiere trugen GPS-fähige elektronische Sensoren auf dem Rücken, mit der da Costa in Echtzeit Messungs- und Bildergebnisse an eine Online-Kartierungs- und Blogging-Seite senden konnte

Wenn Olafur Eliasson fast untergeht

Ein derart auftrumpfendes Mammut-Unternehmen wie "PST Art" steht natürlich unter dem Verdacht verschärfter Blockbusterei. In dem gehen riesige, leider wenig überraschende Retrospektiven, wie die "Open" übertitelte Werkschau von Olafur Eliasson im Geffen-Museum, fast unter. Letztlich überzeugt die Struktur jedoch als Modell ähnlich ambitionierter Großprojekte. Denn anders als bei einer südkalifornischen Biennale, die als künftige Dauerform für "PST Art" im Vorfeld von Getty auch erwogen wurde, befähigt der stipendiengestützte Verbund die einzelnen beteiligten Häuser. 

So können sie ihre reichen Potenziale und Sammlungen auf eine Weise entfalten, die sie allein nicht hätten stemmen können. Mehr als fünf Jahre lang konnte das LACMA seine Schau "We Live in Painting: The Nature of Color in Mesoamerican Art" vorbereiten. Ab 2030 soll "PST Art" nun alle fünf Jahre stattfinden, verkündete stolz Getty-Chefin Katherine E. Fleming. Für die Schau hatte Ann Philbin,die Direktorin des Hammer-Museums der Universität von Kalifornien, das sich mit der Öko-Schau "Breath(e)" an "PST Art" beteiligt, sogar ihre Pensionierung aufgeschoben. 

Wie um zu beweisen, dass "PST" mehr ist als ein besonders bombastisches Standortmarketing, wird darin sozialökologisches Bewusstsein großgeschrieben. Es wolle, unterstrich das Getty nachdrücklich, "Möglichkeiten für einen bürgerschaftlichen Dialog über einige der dringendsten Probleme unserer Zeit" schaffen. Von der Repräsentation von Krankheit und Behinderung in der Kunst über die Auseinandersetzung mit Überwachungstechnologien bis zum Problem des Brackwassers von Los Angeles reichen die Themen der Ausstellungen. 

Der deutsche Öko-Magier in Kalifornien

Aber selbst bei einem derartigen Großaufgebot an künstlerisch-wissenschaftlichen Projekten war nicht zu erwarten, dass ausgerechnet in Südkalifornien der Durchbruch zur transformative society gelingen würde. Diese hatte Daniela Lieja Quintanar, Direktorin des multidisziplinären Kunstzentrums Redcat in Downtown Los Angeles, zur Eröffnung beschworen. 

Beispielhaft steht dafür die Schau "Joseph Beuys – in Defense Of Nature", die vom deutschen Öko-Magier und dessen "7000 Eichen"-Aktion in Kassel inspiriert ist. Mit ihr will das private Kunstmuseum The Broad die (ebenfalls vom Getty unterstützte) Initiative Social Forest: Oaks of Tovaangar im Elysian Park von Los Angeles promoten. Die Ausstellung versucht, die Idee der Wiederaufforstung für das von verheerenden Waldbränden gezeichnete Kalifornien populär zu machen. Genau genommen skizziert sie aber eine sozialökologische Reparatur, keine grundlegende zivilisatorische Umkehr. 

Mehr davon hat die Ausstellung "Views of Planet City" im Institute of Architecture am Los Angeles Design Zentrum zu bieten. Auf frappierende Weise denkt der Künstler Liam Young darin den Vorschlag des Biologen Edward O Wilson zu Ende, zur Rettung unserer Erde die Hälfte der Erdoberfläche allein der Natur zu widmen

Eine gewöhnungsbedürftige Mischung aus Dystopie und Utopie

Seine Vision ist die Gründung einer einzigen Stadt, in die die prognostizierten zehn Milliarden Menschen, die die Erde demnächst bevölkern werden, umziehen. In dem verwinkelten Gebäude hängt Youngs Bienenwaben-ähnliches, in wechselnden Farben erleuchtetes Modell dieser Stadt mitten im Raum. 

Um die Skulptur herum haben fünf Künstlerinnen und Künstler Beiträge zu Überlebenstechniken beigesteuert, wie die Menschheit die Zeit, in der der Planet sich einer ökologischen Rehabilitation unterzieht, überbrücken könnte: Neue Produktionstechniken, synthetische Ökosysteme – alles bereits existierende Verfahren. Youngs Arbeit ist eine gewöhnungsbedürftige Mischung aus Dystopie und Utopie. Der Gedanke, dass die ganze Menschheit in einem einzigen Haus wohnt, ist so schwer vorstellbar wie sie ängstigt. Utopisch ist die Arbeit aber darin, als sie das Denken für neue, andere, ungewohnte Zukünfte öffnet.