Heuchelei im Kunstbetrieb

Jetzt steht Klassenkampf auf der Karte

Der Kunstbetrieb wird von einer Elite bestimmt, die sich tugendhaft gibt, aber echte Veränderung verhindert. Es ist Zeit, einen Kulturkampf zu führen, der Ökonomie und Identität zusammendenkt. Ein Vorbild dafür findet sich in der Act-Up-Bewegung der 90er

Ich weiß nicht, ob ich der Einzige bin, der sich bei der letzten Berliner Art Week in einen FDP-Traum versetzt fühlte. Ich war lange nicht mehr auf Dinnern und Kunstevents. Warum tummelten sich da so viele Christian-Lindner-artige Männer? Sie wissen schon, maßgeschneiderte Anzüge, transparentes Warhol-Brillengestell. Abends keine Krawatte, farbige Wildleder-Slipper, Gel im Haar, Gel überall drauf, superteure Uhr, Ice, ice, baby

Oder Brigitte-Marcon-Klone, madamige Frauen in mit Gold oder floralen Mustern durchwirkten Puffärmel-Designs, schwarzen, halbtransparenten Blusen, Yoga-Armen. Sie wissen schon, Leute, bei denen das Material zu dir spricht. Das sagt: Hallo, ich bin Model und Aktivistin, ich habe andere Leute, die meine Sachen dämpfen, meine Haare färben, alles hochprofessionell. Ja, und ich kann über den Ausflug neulich mit Nina und Manfred in die Tate Modern, diese Initiative in Sardinien, die Manfred und ich unterstützen, diese super interessante Schwarze Künstlerin bei Dingsda reden und gleichzeitig essen und mich nicht bekleckern. Manfred, komm, wir tanzen jetzt mal, Ice, ice, baby.  

Ja, alles sehr super, aber was war da los? Ich kam mir vor wie in Schulzeiten, in den 1980ern, als hätten Leute aus meiner Klasse von der Jungen Union, vom Tennisclub Rot-Weiß jetzt die Kunstherrschaft übernommen. Dieses bürgerlich-liberale Bild, diese gedämpfte, performte Progressivität auf der Art Week passte unheimlich gut in diese Zeiten, in denen die AfD gar nicht erst in die Regierungsverantwortung kommen muss, weil ja die Ampel und die Länder schon ihre rechte Politik umsetzen. 

Alle voll upper crust

Als Reaktion gegen den Rechtsruck setzen sie Sachen um, die vor kurzem noch talking points der extremen Rechten waren: Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien. Grenzkontrollen, bei denen natürlich nicht random, sondern "stichpobenartig" nach illegalen Geflüchteten gesucht wird, Gendersternchen-Verbote in Ämtern und Schulen, die Streichung von Geldern für gemeinnützige Vereine - vor allem jenen, die sich um Integration kümmern. Zu diesen Zeiten gehört auch der von den Parteien "der Mitte" geschürte Hass auf "Schmarotzer" und "Trittbrettfahrer", Migrant:innen und Bezieher:innen von Bürgergeld. 

Im Gegensatz dazu sahen alle auf diesen Kunst-Events aus wie Leistungsträger unserer Gesellschaft. Auch die Künstler:innen – etwas asymmetrischer, androgyner, aber voll upper crust. Keiner hier gehörte zu den random people. Diesen Begriff habe ich auch im Zusammenhang mit der Art Week gehört: "Bei der normalen Eröffnung am nächsten Tag waren zu viele random people da, die nur unseren Wein ausgetrunken haben." 

Meint natürlich auch: die nichts gekauft haben. Früher sprach man von "Common People", wie ja auch der Song der Band Pulp hieß, der 1995 auf Platz zwei in den britischen Charts aufstieg, einer der wenigen Hits, die Klassenkampf thematisieren. Der romantische Refrain ist ein echter Ohrwurm:  "I want to live like common people / I want to do whatever common people do / I want to sleep with common people / I want to sleep with common people like you." Aber heute passt random viel besser, weil es nicht nur um Klassenunterschiede geht.


Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist "zufällig" oder "beliebig". Im Slang würde das je nach Kontext auch "zusammenhangslos" oder "überflüssig" heißen. Das Gegenteil von einer random Person wäre also jemand, der oder die in einen Kontext gehört, ein Ziel eine Funktion, eine Bestimmung hat. Leute in der Kunstwelt können klassenübergreifend als random erklärt werden: Die prekäre Kunststudentin genauso wie der abgehalfterte Kurator aus den 90ern, das Sammlerpaar aus Soest, das (noch) keiner kennt.

Man sollte also nicht random sein. Und es gibt, fiel mir nicht nur auf der Art Week auf, zwei Sachen, mit denen man nicht punktet: "Alte" Linke, und "alter" oder "weißer" Feminismus.  Wenn ich es richtig verstanden habe, waren hingegen besonders zwei Sachen in: richtig Kohle mit random heißen Themen (Klima, Rassismus, Formen von Ungleichheit) zu verdienen und moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Und was in dieser Abteilung immer mehr zu hören ist: Schluss mit diesen Debatten um "Wokeness" und Identität.

Dazu passt auch der Titel eines Monopol-Kommentars von meinem lieben Kollegen Sebastian Frenzel: "Wider das Gerede vom Kulturkampf". Seine Polemik beginnt er mit der Aussage eines Brandenburger FDP-Fuzzis, seine Partei werde den "Kulturkampf gegen das Auto" nicht mitmachen. Die FDP will ja kein Tempolimit, weniger Fahrradstraßen, weiter Dieselmotoren, Flatrate-Parken beim Shoppen in da city. Und der Fuzzi sagt, der "Kulturkampf gegen das Auto" sei ein "Kulturkampf gegen den Menschen". 

Menschen von gestern, heute und morgen

Wie Frenzel weiter ausführt, ist für die neue Rechte alles "Kulturkampf": von der Wärmepumpe über das Elektroauto bis zur Unisex-Toilette. Er bemängelt die aufgeladene, unsachliche Stimmung, die Polarisierung des öffentlichen Diskurses, die Delegitimierung von öffentlichen Institutionen und öffentlichen Medien, das Ignorieren von Fakten: "Wo alles 'Kultur' ist, … ist der Klimawandel Ansichtssache, kann so oder auch anders behandelt werden, und also besteht kein Grund zum Handeln." 

Und gerade jetzt, wo dieser Kampf zu ökonomischen und politischen Themen wie Mehltau auf der Gesellschaft liegt, sollen im Gegenzug ausgerechnet die Künste eindeutiger werden, bemängelt Frenzel. Wie schlecht das klappt, sagt er, zeigen der "Furor des Kunstaktivismus",  gecancelte Ausstellungen, staatliche Versuche, den Betrieb strenger zu kontrollieren, wie der geplante Bundestagsbeschluss gegen Antisemitismus, der die Kunstfreiheit einschränkt. 

Dann nimmt es eine merkwürdige Wendung: Frenzel zitiert Jan Böhmermanns jüngst veröffentlichten Gastbeitrag in der "Zeit", ein halbsatirisches Manifest, in dem der Comedian zur Sache geht und die Welt in "Menschen von Gestern" und Menschen von "heute" und "morgen" einteilt. Von gestern sind alle, die nicht verstehen, dass der Verbrennungsmotor am Ende ist, inklusive Sprache eine prima Idee, Wärmepumpen spitze, dass Russland besiegt werden muss, es mehr als zwei Geschlechter gibt, es Schokokuss heißt. Und: Google vergesellschaften, Meta regulieren, X zur Verantwortung ziehen. 

Ab auf die stille Treppe

Diese ewig Gestrigen, schreibt Böhmermann, sollen bitte erstmal ausgegrenzt werden, ab auf die stille Treppe, bis sie es dann kapiert haben. Alle anderen tun sich über politische und kulturelle Gräben hinweg zusammen und packen die Probleme ganz pragmatisch an. Das findet auch Frenzel gut. "Die Anerkennung dieser Selbstverständlichkeiten" würden "auch die Kunst befreien". Und schließlich seien ja nicht Politik und Wirtschaft, sondern die Künste die Arena für Irrationalitäten und Clowns. Denn die sei "ein Feld für Ambivalenzen und Widersprüche." 

Ich hole mal tief Luft und zuppele mein asymmetrisches Panzerkleid zurecht. Also, ich möchte nicht in einer Kunstwelt leben, die eine Arena für Irrationalität und Surrealismus ist. Zirkus oder Biennalen, die aussehen wie dekolonialisierte Vergnügungsparks, gehen mir sowieso auf die Nerven. Und Böhmermann hat ja bereits einen veritablen Shitstorm für diesen arroganten, null lustigen Beitrag geerntet. Der Knaller aber ist, dass jetzt ausgerechnet die Leute im Kunstbetrieb, der Hardcore-Kulturkampfmaschine überhaupt, ein Ende des Kulturkampfs fordern, weil ihr Lebensstil selbstverständlich für alle richtig ist und Nazis oder random People einfach mal die Fakten akzeptieren sollen: Schokokuss und Wärmepumpe gut. 

Ich würde da Lektüre empfehlen: "Die Tugendpächter", einen schmalen, 2023 auf Deutsch erschienenen Band von Catherine Liu. Darin attackiert die kalifornische Film- und Medienwissenschaftlerin, eine klassische Marxistin, die sogenannte "Professional–managerial class" (PMC) in den USA, eine brahmanische, gebildete, progressive Linke, die mit Uniabschlüssen in Leitungspositionen sitzt, in denen sie nicht körperlich arbeitet, sondern andere Menschen managt, anleitet, kontrolliert. 

Dieses unkuratierte, undisziplinierte Leben

Solche Leute arbeiten für Human Resources, als Unternehmensberatung, Content Creator, Museumsleitung, Kurator:in, Super-Duper-Künstler:in mit 30 Mitarbeiter:innen. Gemeint sind akademische Berufe in Forschung und Lehre, in Verlagen, Medien, im höheren öffentlichen Dienst und Jurisprudenz. Diese liberale Elite, schreibt Liu, verachtet die Arbeiterklasse und die random people nicht nur, weil sie diese für rückständig, blöd und vulgär hält mit ihrem nicht-kuratierten, undiszipliniertem Leben. 

Diese Kaste blickt nicht nur herunter auf andere. Sie pachtet alle möglichen Tugenden exklusiv für sich, die andere angeblich nicht haben: Empathie, Gerechtigkeitssinn, Bildung, Fachwissen, Geschmack, Solidarität, Spiritualität, bewusste Sexualität, Selbstbeherrschung und so weiter. Der Originaltitel des in der Pandemie entstanden Buches ist "Virtue Hoarders", genauso meint Liu das auch, das Tugenden von Reichen so zusammengerafft werden wie Geld, Kunst, Immobilien oder Designerklamotten. 

Im Gegensatz zu ruchlosen Businessleuten wie Trump oder den Fascho-Tech-Bros aus dem Silicon Valley, die sich null tugendhaft geben, sieht sich diese Klasse als allen anderen moralisch überlegen an. Sie verfügt über kulturelles und tatsächliches Kapital, fällt ökologisch bewusste Kaufentscheidungen, sagt uns, wie wir richtig sprechen, denken, die Etikette wahren sollen. Sie möchte nicht gut dastehen, sondern wirklich gut und gerecht sein, gegen Ungerechtigkeit kämpfen und Leute mit Geld oder therapeutischen Ratschlägen empowern. 

Komplizenschaft mit der kapitalistischen Elite

Da sind allerdings auch Schuldgefühle im Spiel. Es gehört zum calvinistischen Denken der US-amerikanischen Gründerväter und der evangelikalen Kirchen, dass Gott diejenigen mit Reichtum beschenkt, die tugendhaft und fleißig sind. Und da sich die brahmanische Linke in den USA der Ungerechtigkeit ihrer Privilegien bewusst ist, so Liu, versucht sie das durch ihre angesammelte Tugendhaftigkeit vor sich selbst zu rechtfertigen – auch ihre Komplizenschaft mit der gar nicht so tugendhaften kapitalistischen Elite, die sie letztendlich bezahlt und instrumentalisiert.

Dass sich die PMC so engagiert und gleichzeitig kein wirkliches Interesse an Veränderung hat, äußert sich auch darin, dass politische Probleme ständig individualisiert und personalisiert werden. Mit Vorliebe sprechen Reiche und Prominente über ihre eigenen Erfahrungen mit Traumata, Gewalt, Umweltzerstörung, über ihre "Healing-Reise", ihr Engagement – aber kaum jemand geht auf die historischen oder politischen Ursachen ein. 

Die PMC setzt stattdessen beim Konsum an, etwa umweltfreundlichen, fairen Produktlinien, die man kauft oder verkauft, den Benefits, den causes oder Workshops, die man unterstützt, um etwas zu verändern. Die Produktionsbedingungen, die systemischen Gründe, die zu der Situation geführt haben, werden nicht angerührt. Im Gegenteil, die persönlichen Probleme und Erfahrungen wie sexueller Missbrauch werden in Podcasts, Talks, Dokus zu Geld gemacht und verleihen den Anstrich von Authentizität. 

Kein Geld? Mach dir doch was Schickes aus Kichererbsen!

Auf der anderen Seite sinken die Löhne, die Beschäftigung wird temporärer, du musst bei Freunden oder im Auto pennen, aber dein Boss will dir noch was mitgeben. Er sagt dir, wie du dich respektvoll benimmst und andere korrekt ansprichst, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. Und gibt Tipps, wie er selbst damit umgehen würde. Kein Geld? Mach dir doch was Schickes aus Kichererbsen! Oder du kannst das kostenlose Magazin von "Arts of the Working Class" verkaufen. Und gleich mal reinblättern, eine tolle Sache: Poesie, recycelte akademische Texte, Expertenmeinungen in allen Sprachen – verfasst von angehenden oder schon erfolgreich praktizierenden Vertreter:innen der PMC.  

Diese bewusste Elite steht gesellschaftlicher Veränderung absolut im Weg, findet Liu. Die Autorin will stattdessen wieder zu den ökonomischen Bedingungen, zu Politik, zur Realität von Ausbeutung und Ungleichheit zurückkommen, zu einem wirklich inklusiven gesellschaftlichen Dialog, weg von der Pseudo-Betroffenheit, die nur dazu dient, die eigenen Privilegien zu schützen. 

Das erinnert so verdammt an die Kunstszene. Auch die Tatsache, dass Liu selbst Teil der Professional–managerial class ist und fast nur abtrünnig werdende PMC-Leute ihren Ausführungen folgen. Die Kunstwelt weiß, dass jetzt die Klassenfrage auf dem Menü steht, dass bald Schluss ist mit dem Dauer-Fokus auf indigenes Wissen, Mutter Erde, uralte Handwerkstechniken, dieser halbherzigen Manufaktum-Dekolonialisierung. Doch wenn art world people sagen, Identitätsdebatten, Intersektionalität oder die ewig dystopische Linke gehen uns auf die Nerven, wir wollen etwas anderes, dann wollen sie stattdessen auch nicht über Klasse reden. 

Mit der Pandemie verschwand das Interesse an der ökonomischen Realität 

Dabei müsste auch in der Kunst dringend über Produktionsbedingungen oder gar Umverteilung geredet werden, darüber, woher das Geld kommt und wohin es geht. Das war schon vor der Pandemie ein großes Thema. Etwa die Leiterin der Serpentine Gallery, Yana Peel, die in der Kunstwelt für ihren Einsatz für Menschenrechte ausgezeichnet wurde, deren Mann aber Mitinhaber einer israelischen Firma für die Spyware Pegasus war, die von Ländern wie Saudi-Arabien zum Orten und Abhören von Dissidenten genutzt wird. 

Peel trat zurück. Heute ist sie Global Head of Arts and Culture bei Chanel. Da war auch Warren B. Kanders, Mitglied im Board des liberalen Whitney Museums, dessen Firma Tränengas produziert, das an der US-Grenze gegen mexikanische Migranten eingesetzt wurde. Doch mit der Pandemie verschwand dieses Interesse an der ökonomischen Realität von Kunstwelt-Philanthropen plötzlich.

Nur Nan Goldin kam mit ihrem Kampf gegen die korrupte Pharma-Dynastie der Sackler-Familie durch, die aus Profitgier die USA in eine Opioid Krise gestürzt hatte und Museen wie das New Yorker Guggenheim oder den Louvre mit hohen Summen förderte. Goldin und ihre Mitstreiter:innen zwangen die Museen dazu, diese Unterstützung zu kappen und riskierte dafür alles. Die meisten Künstler:innen wollen sich nicht festlegen, keine Position beziehen. Kunst soll eben nicht für Politik instrumentalisiert werden. Auch Sebastian Frenzel sagt, Kunst soll ambivalent sein, Raum für Widersprüche bieten. Das stimmt. Aber die Künstler:innen könnten als Bürger:innen politisch und kulturpolitisch Position beziehen. Doch auch da bleibt man eher sphinxisch-poetisch, um niemanden zu vergraulen. 

Der ewige, reaktionäre Widerspruch

Zugleich ist mir Liu oft zu wagenknechtig, diese Vorstellung der guten alten Arbeiterschaft, dass es nur um die Produktionsbedingungen und Umverteilung des Kapitals geht, diese Ablehnung des woken und snowflakigen. Mich stört dieser ewige, auch reaktionäre Widerspruch, der da konstruiert wird: entweder Identität oder Klasse. Als ob die Identitätsdebatten wie eine tiefenpsychologische Gesprächstherapie seien, in der nur gelabert wird. Und der Klassenkampf wie eine handfeste Verhaltenstherapie, die wirklich etwas ändert.  

Der Vorwurf des Nicht-Pragmatischen, Nicht-Lebensnahen trifft ja auch fluide Leute und trans Menschen. Aber genau die müssen superhandfest sein, einfach um zu überleben. Das war auch in der Aids-Krise der 1980er- und 1990er-Jahre so. 

Leute, die nichts mehr vom alten Feminismus, alten queeren Bewegungen wissen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren absolut mit der linken Idee verbunden waren, sollten sich mit der Aids-Krise und Act Up beschäftigen. Ich wäre heute tot, ohne weiße und Schwarze Feministinnen und Lesben, die sich zusammen mit Schwulen, Drag Queens, trans Leuten, Latinx, Menschen mit allen nur möglichen Herkünften und Hautfarben, Armen, Reichen, Junkies, Müttern, Freunden und Freundinnen bei den von Act Up organisierten Protesten in New York organisierten.

Ich hätte das nicht mehr erlebt

Sie machten "Die-Ins" vor der FDA, der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel. Sie forderten kürzere Testphasen für Medikamente, mehr Mittel für Forschung, bessere medizinische Versorgung. Sie waren wütend. Mit roter Farbe verschmiert legten sie sich als Leichenberge auf die Straße vor den Behörden und schrien ihre Forderungen hinaus. Sie brachten Anti-Reagan- und Anti-Kirchen-Plakate mit, Grabsteine aus Pappe, warfen Steine in die Glastüren. Ließen sich von der Polizei wegtragen. 

Hunderte, Tausende von Leuten kamen zu den legendären Monday Night Meetings im LGBT Center in Manhattan, um ihre Aktionen zu planen, gewaltfreiem Widerstand zu trainieren, medizinische Entwickelungen und alternative Heilmethoden im Kampf gegen HIV und die Folgen von HIV zu besprechen, ihre Erfahrungen, ihre Wut zu teilen. Act Up konnte wirklich etwas bewegen. Sie konnten Prävention in der Massenkultur etablieren, die Entwicklung der Dreier-Kombination vorantreiben. Ohne ihre Aktionen und Proteste hätte das fünf Jahre länger gedauert, ich hätte das nicht mehr erlebt. 

Es ist ein Irrtum, dass der Kampf gegen Aids vor allem eine queere oder identitätspolitische Angelegenheit war. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, es hätte sich hier um die Belange von privilegierten, weißen Männern gehandelt. Sarah Shulmans fantastisches Buch "Let the Record Show: A Political History of Act Up, New York 1987-1993" oder die Doku "United in Anger: A History of Act Up" liefern ein anderes Bild. Es waren unglaublich viele Frauen und Nicht-Weiße beteiligt. Der Kampf gegen die Diskriminierung und Stigmatisierung war auch ein Kampf gegen das neoliberale System unter Reagan. Die Aids-Krise berührte so viele Probleme: Rassismus und Armut, das völlig marode Gesundheitssystem, die fehlende Krankenversicherung, die Lage auf dem Wohnungsmarkt, prekäre Arbeitsbedingungen.

Schmerz, Wut, Trauer, Empathie

Das Interessante an dieser Katastrophe war, dass das Virus keine Klassenunterschiede machte, sondern random übertragen wurde, sich durch die unterschiedlichsten Communities verbreitete. Es zwang die Leute dazu, andere Milieus kennenzulernen. Zwar konnten sich Reiche medizinische Versorgung und neue Therapien leisten, zugleich verloren viele Yuppies, die in Banken oder Anwaltskanzleien arbeiteten, durch Krankheit und Stigmatisierung alles: ihre fitten Körper, ihre Jobs, Wohnungen, ihr soziales Umfeld. 

Das massenhafte Sterben an den Folgen von Aids in der schwulen Community im East Village, West Village, der Lower Eastside, in Harlem und in Chelsea führte zu einer beschleunigten Gentrifizierung, weil so viele Wohnungen der Verstorbenen ohne die alte Mietpreisbindungen für den Markt frei wurden und von reicheren, weißen Bewohnern bezogen wurden. 

Die Betroffenen, die damals in die Öffentlichkeit traten, taten das unter enormen Druck, viele von ihnen wussten, dass sie nur wenig Zeit haben.  Da war nichts mit wohlwollendem Engagement, nichts mit Tugendpunkten. Die Verbindung all dieser völlig unterschiedlichen Menschen geschah durch Schmerz, Wut, Trauer, Empathie, im wahrsten Sinne dadurch, dass man selbst, oder als Angehöriger betroffen war, sich nicht abgrenzen wollte oder konnte. 

Der Protest war sexy

Doch zugleich sieht man in den Dokumentationen, wie ekstatisch und hedonistisch das war, dass da gecruised, gefeiert und gestritten wurde. Act Up war, wie Zeitzeugen erzählen, "sexy". Die Grundlage für das alles war das Gefühl von Ohnmacht, kollektive Machtlosigkeit. Dass Nan Goldin so erfolgreich mit ihrem Aktivismus ist, liegt an zwei Ursachen: Sie hat schon bei Act Up aktivistische Strategien gelernt, weil all ihre Freunde und Freundinnen starben. Und sie ist selbst süchtig. Sie agiert als Betroffene, quasi auf Augenhöhe, empowert nicht andere von oben herab, wie so viele in der heutigen Kunstwelt.

Dort ist das oft anders: Man verbindet sich nicht durch Ohnmacht, sondern durch Status und Macht. Das Leid von anderen ist für jene, denen es gut geht, nur aus der moralischen, tugendhaften Perspektive der gehobenen Klasse zu ertragen, in der man sich isoliert wie in einem Raumanzug: "Ach, und das hier ist Ihre Küche?", "Ich hab kein Geld für dich, aber Quinoa-Salat". 

Dabei sind Leute nur so lange random, bis man etwas in ihnen sieht. War von den 60ern bis zu den Nachwende-Jahren diese Idee total wichtig, dass man in der Kunstwelt wie im Studio 54 auf völlig unterschiedliche Leute stößt, will man heute eher einen Membership-Club. Auch die Kunstproduktion ist immer mehr eine Angelegenheit der herrschenden Klasse.

Expertise beruht auf Kapital

In USA oder Großbritannien, gibt es aufgrund der fehlenden Förderungen immer weniger Chancen für Studierende aus der working class. Fast niemand, der oder die keine wohlhabende Familie oder arbeitende Partner hat, kann es sich heute noch leisten, als freier Kritiker oder Kritikerin zu arbeiten. Wer in urbanen Metropolen schlecht oder unbezahlte Praktika an Instituten oder in Galerien annimmt, braucht das nötige Kleingeld. Das heißt: ungeheure Ambitionen oder reiche Eltern. 

Das führt dazu, dass die Kunstwelt von Expert:innen, gesteuert wird, deren Expertise vor allem auf ihrem Kapital beruht, die alles unter dem Aspekt der Vermehrung von Kapital tun, sei es nun ideell oder monetär. Das Schreckliche daran ist, dass nun Sotheby's-Student:innen Expert:innen für Proust und Punkrock werden, dass uns Unternehmen erklären, was nun relevant in der queeren Kultur ist, warum man "Latinx" schreiben muss, Museen auf Instagram Lebenshilfe leisten, therapeutische Einrichtungen werden, superreiche Sammler:innen, die ihre eigenen Familien nicht richtig entnazifizieren können, durch ihre Ankäufe zu Expert:innen für Rassismus und Kapitalismuskritik werden. 

Hollywood hat es ähnlich gemacht, den erfolgreichen Kampf gegen Aids wie in den Filmen "Philadelphia" oder "Angels over America" vor allem als die Leistung von heterosexuellen Menschen dargestellt, die ihre Homophobie überwinden und zur LGBTQI+-Community stehen. So viele der nicht-weißen Leute, der queeren Community, die sich damals in den Weg gestellt, unter Einsatz ihres Lebens für Therapien und Rechte gekämpft haben, sich in den Medien geoutet haben, dabei gestorben sind, sind in der Öffentlichkeit vergessen. 

Der tugendhafte bullshit muss aufhören

Einer der Gründe für die Gründung von Act Up war, dass Gesundheitsbeamte, Regierungsforscher, Mediziner:innen, Ärzt:innen und Führungskräfte von Pharmaunternehmen als "Aids-Experten" galten und enorme Macht über Menschen mit Aids hatten. Forderungen der Leute, die mit Aids lebten, wurden lange nicht gehört. Ihre Erfahrungen, die sie zu Experten für alle möglichen Aspekte der Pandemie machten, spielten lange gar keine Rolle. Es ging also um lebensnotwendige Selbstermächtigung, darum, sich tatsächlich bestehende Expertise zurückzuholen. Dasselbe galt für die von Nan Goldin gegründete Organisation P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), die ganz ähnlichen Prinzipien folgte. 

Um einen klareren Blick auf die Klassenverhältnisse zu bekommen, muss auch in der Kunst der Professional–managerial class das Monopol auf Tugendhaftigkeit abgesprochen werden, da fehlt die Expertise. Wir brauchen keine Einigung auf liberale Ansichten, die "selbstverständlich" sind. Wir brauchen eine Form von Kulturkampf, der nicht einfach die Klassenverhältnisse ausblendet und Identität und Ökonomie getrennt verhandelt. Dieser knallharte, tugendhafte bullshit muss endlich mal nachlassen – nicht nur weil er Veränderung verhindert, sondern weil er selbst die gehirngewaschene Kunstwelt zu Tode langweilt.