Venedig 1980: Auf der Architekturbiennale wird László Tóth gefeiert, ein jüdisch-ungarischer Architekt monumentaler Betongebäude, der hochbetagt und im Rollstuhl sitzend seiner Retrospektive beiwohnt. In ihrer Eröffnungsrede weist Toths Nichte Zsófia darauf hin, wie eng das Schaffen ihres Onkels mit der Shoah verknüpft ist. Der ehemalige Bauhaus-Lehrer hatte das KZ Buchenwald überlebt und ging nach Kriegsende in die USA.
László Toth ist "The Brutalist" in Brady Corbets gleichnamigem Film, der jetzt auf der Mostra in eben jenem Venedig Premiere feierte. Toth ist ein fiktiver Charakter, ein berühmter Architekt dieses Namens hat nie existiert. Aber wie Corbets bisherige Regiearbeiten – sowohl "The Childhood of a Leader" als auch "Vox Lux" wurden schon am Lido uraufgeführt – besitzt auch der neue Film einen speziellen historischen Touch. Das liegt nicht zuletzt am 70-Millimeter-Analogformat, in dem er gedreht – und in Venedig auch aufgeführt wurde. Im Zeitalter der handlichen Digital Cinema Packages völlig unüblich: 26 Filmrollen von rund 140 Kilo Gesamtgewicht wurden aus den USA nach Italien geflogen, um den Retro-Effekt zu voller Wirkung zu bringen.
Corbets Material-Fetischismus ist nur die Spitze eines Eisbergs; über sieben Jahre hat die von Fehlstarts und Finanzproblemen gesäumte Realisierung von "The Brutalist" gedauert. Doch Corbet, 1988 in Arizona geboren und zunächst als Schauspieler für Michael Haneke, Lars von Trier und Olivier Assayas tätig, ist offenbar so kompromisslos, visionär und künstlerisch eigenwillig wie seine Titelfigur.
Denkmal, Kirche und soziales Zentrum
Im Jahr 1947 steigt der frühere Bauhaus-Dozent László Tóth (Adrien Brody) aus dem Bauch eines Überseedampfers ans Tageslicht. Sein erster Blick auf Amerika gilt einer kopfüber hängenden Miss Liberty, mit der Fackel der Freiheit nach unten; vielleicht kein gutes Omen, aber Tóth kommt aus der Hölle – es kann nur besser werden. Vor allem hofft László, dass seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) nachkommt, die noch irgendwo als displaced person in der Sowjetunion festsitzt.
In Pennsylvania macht der Designer und Architekt die Bekanntschaft mit dem Tycoon Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce). Der kann mit Tóth und seinen minimalistischen Ideen eigentlich nichts anfangen, aber ein hymnischer Artikel im "Look"-Magazin bringt den Sinneswandel: Nun soll Tóth für den in ästhetischen Fragen unbedarften Van Buren einen riesigen Betonkomplex entwerfen, der Denkmal, Kirche und soziales Zentrum in einem werden soll.
Lászlós Leben scheint sich zum Guten zu wenden, zumal er auch Erzsébet und seine Nichte Zsófia (Raffey Cassidy) in die Arme schließen kann. Beschädigt sind sie alle drei: László ist morphiumsüchtig, Zsófia verstummt, Erzsébet sitzt im Rollstuhl – Knochenschwund aufgrund der Mangelernährung in Dachau. Am schlimmsten wirkt sich die seelische Last aus, an der die Paarbeziehung zu zerbrechen droht. Zu Brodys und Jones’ beklemmend-intensivem Spiel treten abgründige Bilder: Bahnschienen, ins Ungewisse rasende Züge, gespenstischer Rauch aus dem Schlot einer Lokomotive. Auschwitz hat sich in den Köpfen festgesetzt.
Willkommen oder nur geduldet?
Während der Baufortschritt des Mammutprojekts erlahmt, verblasst auch Lászlós amerikanischer Traum, zumal hinter dem einnehmend-unkomplizierten Gebahren seines Mäzens zunehmend despotische Züge sichtbar werden. Sind die Juden in den USA nun willkommen oder bloß geduldet, und das auch nur, solange sie "liefern"?
"The Brutalist" erzählt auch die Geschichte von zwei Familien: Die schwerrreichen Van Burens leben in einem schlossartigen Bau in großzügigen Räumen. Die Holocaust-Überlebenden László, Erzsébet und Zsófia sind wohl in einem heruntergekommenen Trakt desselben Anwesens untergebracht, was aber unklar bleibt – eine von der Regie intendierte Unübersichtlichkeit der Verhältnisse.
Von Anfang an sind die Szenen der Tóths von klaustrophobischer Enge und flacher Schärfe geprägt. Sie sind in einer Welt der Widersprüche und der Ausbeutungslogik gefangen und drohen, erneut zu Opfern zu werden, zerstört vom Kontrollwahn des mächtigen Van Buren, der Lászlós Geist, seine Seele und schließlich sogar seinen Körper besitzen will. Doch auch Bauwerke können Menschen verschlingen. Van Buren ringt zwar mit Tóth um Struktur und Sinn des langsam entstehenden Monumentalbaus – aber der Architekt des brutalistischen Gebäudes ähnelt dem Pyramiden-Baumeister in Howard Hawks’ Antikenfilm "Land der Pharaonen" (1955): László weiß, wie man tödliche Fallen konstruiert.
Das Fundament einer neuen Art brut
"The Brutalist" ist eine düstere Phantasmagorie über Amerika, die man vor dem Hintergrund der Ära Trump und einem weltweiten Trend zur Autokratie betrachten kann. Vieles, was Corbet in seinem Dreieinhalb-Stunden-Epos erzählt, lässt sich nach der ersten Sichtung kaum enträtseln. Vielleicht ist es gerade der enigmatische Charakter, der den besonderen Sog erzeugt und dem man sich schwer entziehen kann. Man findet gewisse Parallelen zu Orson Welles Geschichte von "Citizen Kane" (1940) um den egomanen Milliardär Charles Foster Kane, der sich den gewaltigen Alterssitz Xanadu bauen lässt.
Inspiriert ist "The Brutalist" aber sicher auch von dem Roman "The Fountainhead" der russisch-amerikanischen Autorin Ayn Rand, die einen uneingeschränkten Kapitalismus vertrat, den Kollektivismus verachtete und für hemmungslosen Individualismus eintrat. Das Buch erzählt von dem Architekten Howard Roark, der nach der absoluten Baukunst strebt – ohne Rücksicht auf soziale Gegebenheiten und Bedürfnisse. Während die Romanfigur einen materialgerechten und erdverbundenen Architekturstil vertritt, ist Gary Coopers Figur in King Vidors Verfilmung "The Fountainhead" (1949) von der europäischen Moderne beeinflusst. Die im Film gezeigten Projekte von Roarks Lehrer wirken sogar wie ein Vorgriff des Brutalismus der 1950er-Jahre.
Hier setzt "The Brutalist" an, dessen Drehbuch Brady Corbet mit seiner Lebensgefährtin Mona Fastvold geschrieben hat. Anders als Roark ist Tóth kein rücksichtsloser Egozentriker, aber seine ethischen Zielsetzungen bleiben im Dunkeln, solange der Architekt im Bann seines omnipotenten Mäzens Van Buren steht. Brutalismus, schrieb das britische Architektenpaar Alison und Peter Smithson, versuche "einer in Serie gefertigten Gesellschaft gerecht zu werden und eine derbe Poesie aus den widersprüchlichen und mächtigen Kräften, die am Werk sind, hervorzubringen". Die derbe Poesie teilen die drei Filme, die Brady Corbet bisher gedreht hat, mit dieser Definition. Vielleicht wird man in dem wuchtigen Werk um László Tóth einmal das Fundament einer neuen "Art brut" des Kinos erkennen.