Es ist Mittwoch, 17 Uhr. In der Ifa-Galerie des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart herrscht reger Betrieb. Während draußen dicke, kalte Regenperlen auf den Asphalt klatschen – macht das Juliwetter eigentlich Urlaub? - wird drinnen geputzt und aufgebaut. Doch nicht so, wie man erwarten würde. Denn von Exponaten fehlt jede Spur. Stattdessen befindet sich im Zentrum des Ausstellungsraums eine große, offene Küche, bestehend aus mobilen Wagen mit allerlei Küchengeräten und -utensilien. Drumherum sind Hocker und Stühle in einem Halbkreis angeordnet. Von der Decke hängen waagerechte Metallgitter mit Kräutertöpfen, Pfannen und Sieben. Es ist ein heller, freundlicher Raum. Einladend. Dass man sich in einer Galerie befindet, hat man jedoch längst vergessen.
Elf Tage lang wird hier ein internationales Küchenfest gefeiert, es trägt den Namen "Spacedumpling". "Ende April dieses Jahres ging ein Open Call raus, der in 15 Sprachen übersetzt wurde", erzählt Bettina Korintenberg, Leiterin der Ifa-Galerien in Stuttgart und Berlin. Menschen wurden aufgerufen, sich mit Rezepten rund um die drei Grundzutaten Reis, Kartoffel und Teigtasche zu melden. 40 Bewerbungen kamen bis Anfang Mai an – darunter sogar welche aus Pakistan. Für ihre Auswahl entschied sich das kuratorische Team mit Merv Espina, Bettina Korintenberg, Gabriel Rossell Santillán und Siri Thiermann dazu, Bewerbungen aus der Region den Vortritt zu lassen. Weil die 11 Kochabende jeweils von unterschiedlichen Menschen ausgetragen werden – darunter Künstlerinnen, lokale Initiativen, aber auch Einzelpersonen –, ist jedes Event einzigartig und auch für das Team der Galerie eine kleine, idealerweise schmackhafte Überraschungskiste.
Dieser Abend zum Thema Reiskochen wird von der vietnamesischen Künstlerin Lem TragNguyen organisiert, die besonders im Bereich der Performance-Kunst schon an unterschiedlichen internationalen Projekten mitgewirkt hat. 2021 gründete sie die Performance-Plattform Hay là in Vietnam, 2022 hatte sie mit dem Nha San-Kollektiv einen Auftritt bei der Documenta Fifteen. Der Andrang heute ist groß, immer wieder heißt es an der Tür "Wir sind leider schon voll!" Für TragNguyens Workshop "Mời cơm! A Participation of Affection" konnten sich nur 30 Menschen anmelden, für das gemeinsame Essen im späteren Verlauf des Abends werden dann aber wieder die Pforten geöffnet, jeder ist dazu eingeladen.
"How do you cook rice?"
Die Performance beginnt in der Mitte des Hocker-Halbkreises, alle Anwesenden haben Platz genommen, die Gespräche werden sukzessive eingestellt. TragNguyen sitzt auf dem Boden auf ihren Fersen, vor ihr eine Kochplatte und zwei tiefe, silberne Töpfe. Die Künstlerin macht zunächst einen strengen Eindruck: aufrechte Haltung, weißes, zugeknöpftes Hemd, eng geflochtener Zopf, ernste Miene. Doch dann der erste Blickkontakt mit dem Publikum, ihre Züge entspannen sich. Sie beginnt zu lächeln und bittet alle, näher zu rücken. Und dann nochmal näher, sodass sie ganz dicht bei ihr sitzen. Wie es den Menschen gehe, möchte die Künstlerin wissen, was sie gerade fühlen.
Noch wirken alle ein bisschen eingeschüchtert, fast verunsichert – ist das schon Teil der angekündigten Performance? Oder doch ehrliches Interesse? Einsilbige Antworten fallen. Die Künstlerin zeigt auf die beiden Töpfe: Der eine ist gefüllt mit weißem Reis, der andere ist leer. Sie beginnt, durchs Publikum zu ziehen. Alle Anwesenden sollen eine Handvoll Reis aus dem vollen in den leeren Topf legen. Und dabei mitzählen: Wie viele Hände sind es? Im Raum ist es ganz still, nur das Geräusch von auf den Topfboden rieselnden Reiskörnern ist zu vernehmen. 36 Hände haben Reis geschöpft, weiß eine Teilnehmerin nach der Runde. TragNguyen lächelt wieder, sie habe nicht mitgezählt, sagt sie.
Die künstlerisch-performative Komponente ist kein Muss bei der Veranstaltungsreihe, an anderen Abenden liegt der Fokus auf gemeinschaftlichem Kochen nach Rezept. Keine Inszenierung, nichts, was aktiv nach Kunst schreit. Aber warum dann ein Kochevent in einer Galerie ausrichten? Wo liegt die Schnittstelle? Kann gemeinsames Kochen überhaupt als Kunst deklariert werden?
Das kuratorische Team von "Spacedumpling" bejaht einstimmig. Essen und besonders auch Kochen sei schon lange zentraler Bestandteil von zeitgenössischer, künstlerischer Praxis. Das Projekt gehe von einem Kunstverständnis aus, das nicht objektbasiert sei. Vielmehr verstünde das Team Kunst in diesem Kontext als einen Prozess, den man initiiere oder auch als eine Methode, um damit verknüpfte Themenfelder wie ökologische Gerechtigkeit, kolonialen Handel und Lebensmittelverteilung "anzuschneiden". Ganz besonders gehe es beim Kochen aber um Gemeinschaft, das Austauschen von Rezepten, Erinnerungen und um das Teilen von persönlichen Geschichten. "Kunst kann Begegnungen fördern", so Bettina Korintenberg: "Das ist in meinen Augen auch die Verantwortung von Kulturinstitutionen in dieser Zeit."
Lem TragNguyen hat sich inzwischen an einen kleinen, runden Tisch gestellt, auf dem sich zwei Glasschüsseln befinden. Nur eine davon ist mit Wasser gefüllt. Von ihrer Großmutter habe sie gelernt, dass man den Reis vor dem Kochen immer waschen müsse, zweimal sogar. Und so füllt sie das Wasser in den Reistopf und beginnt, mit ihren Händen zu rühren. Das weißlich-trübe Wasser kippt sie nun in die leere Schüssel. "How do you cook rice? How often do you eat rice?", sie schaut in die Runde. Dieses Mal finden die Fragen Anklang und ein angeregter Austausch entspinnt sich im Publikum.
Reiskocher als soziales Werkzeug
Zu dem gewaschenen Reis wird nochmals Wasser geschüttet, das sie zum Kochen benötigt. Woran sie erkenne, wieviel Flüssigkeit der Reis brauche, fragt jemand. Sie steckt ihre Hand hinein. Das messe sie immer an ihrem Zeigefinger ab, auch ein großmütterlicher Rat. Jetzt wird der Topf auf die Kochplatte gestellt und erhitzt. Reis, wird TragNguyen später im Gespräch erzählen, habe für sie einen besonderen Stellenwert.
Ihre Kindheit verbrachte die heute 30-Jährige sowohl in Vietnam als auch in Deutschland. Das kleine Korn sei für sie weit mehr als nur Grundnahrungsmittel, es verbinde ihre beiden Heimatländer, aber auch die Menschen generell miteinander. Schließlich gebe es in fast allen Kulturen Reisgerichte. Und es sei schön, Traditionen zu teilen. Ihre deutschen Freunde würden oft gemeinsam Reisgerichte kochen wollen, weil sie wüssten, dass die Künstlerin einen Reiskocher daheim stehen habe. Sie lacht.
Inzwischen kocht der Reis, und die Künstlerin bittet alle, ihre Handy-Wecker auf 20 Minuten zu stellen. So lange dauere es, bis er die perfekte Konsistenz habe. Dann verstummt sie jäh, beugt sich gen Boden, die Hände auf dem Rücken. Sie beginnt, einzelne, heruntergefallen Reiskörner vom Boden zu klauben. In repetitiven Bewegungsabläufen sammelt sie die Körner in gebückter Körperhaltung auf, richtet sich kniend auf, führt sie zu ihrem Mund, um sich dann wieder in einer fluiden Körperwelle der Reis-Suche am Boden zu widmen. Dazwischen erzählt sie bruchstückhaft von ihren Eltern und ihrer Heimat. "I ask myself, why am I here. I am Vietnamese but I am in Germany…"
Wie kocht man, wenn man weit weg von Zuhause ist? Wie verändern sich Rezepte an anderen Orten? Und wie kann Kochen dazu beitragen, dass man sich an einem fremden Ort heimisch fühlt? Es sind auch diese Fragen, die Ausgangspunkt des Projekts für das kuratorische Team waren. Gerade lokalspezifisch mit Blick auf Stuttgart, das mit über 44 Prozent Migrationsanteil und 185 Nationen kulturell sehr vielfältig aufgestellt sei, habe man sich auf die unterschiedlichen Rezepte und Geschichten gefreut.
Um diese zu fixieren, baut das Team eine alternative Karte von Stuttgart auf - sie sprechen von einem "lebendigen Archiv". Dafür werden an einer Galeriewand alle Rezepte gesammelt, sowie Fotos der entsprechenden Lebensmittelverpackungen und Quittungen der Orte, an denen die Menschen eingekauft haben. Am Schluss, so Bettina Korintenberg, solle es auch ein Rezeptbuch geben.
Die performative Stille wird jäh von einer Flut aus klingelnden Handyweckern zerrissen. Die eklektische Soundcollage aus den verschiedensten Melodien und Rhythmen gepaart mit TragNguyens seriöser Ausdrucksstärke mutet durchaus dadaistisch an. Jetzt muss der Reis wohl fertig sein. Die Künstlerin probiert und schaut zufrieden. Er sei perfekt geworden, sagt sie. Und die Kostprobe ergibt: Sie hat recht. Eine Keksdose wird herumgegeben, in der sich eine Mischung aus Sesam, zerhackten Erdnüssen und Salz befindet. Ein gängiges vietnamesisches Topping. Ihre Freunde hätten es mitgebracht, für alle, erklärt TragNguyen. Denn in Vietnam teile man Essen.
"In Vietnam teilt man Essen"
Und dann passiert das, was für das kuratorische Team wohl die wichtigste Komponente ihrer Veranstaltung ist: Es kommt zum Austausch. Beim gemeinsamen Schmaus kann beobachtet werden, wie sich Leute verschiedener Nationalitäten einander annähern, ins Gespräch kommen. Sogar Handynummern werden notiert. Und eins wird klar: Ob man dieses Format nun als Kunst bezeichnen möchte oder nicht – das Kochen macht den Ort Galerie einer ganz neuen Klientel zugänglich. Ein Kunstraum, der sich von musealen Fesseln löst, zur Kantine und Begegnungsstätte wird und dabei seinen eigenen Weg bestreitet. Man darf gespannt bleiben, welche Transformationsprozesse noch anstehen.
Das Programm "Spacedumpling" geht übrigens noch bis zum 11. Juli. Dabei ist das Küchenfest nur der erste Part des Programms "Aqua Quemada", das die Ifa Galerie Stuttgart ein Jahr lang zu Themen wie Migrationsbewegungen, Resilienz und überlieferten Technologien anbietet. Ab dem 2. August wird im Rahmen dieses Projekts die Ausstellung "The Conflictive and Contradictory" gezeigt.