Frank Zöllner, 1971 hatte Werner Tübke eine Einzelausstellung in einer Galerie in Mailand. Wie kam es dazu?
Der Mailänder Galerist Emilio Bertonati hatte Interesse an Kunst, die nicht dem westeuropäischen Mainstream entsprach. Also ist er in die DDR gefahren, um sich die Kunstszene vor Ort anzuschauen. Er nahm auch Kontakt mit dem Ministerium für Kultur auf. Im Jahr 1970 stellte er Lea Grundig, Volker Stelzmann und Ulrich Hachulla aus und stieß darüber auf die Werke von Werner Tübke.
Welche Bilder wurden damals ausgestellt?
Das war Gegenstand längerer Verhandlungen: Das Ministerium für Kultur wollte vor allem politische Historiengemälde ausgestellt wissen, etwa zur Arbeiterbewegung. Tübke hingegen bevorzugte seine aktuellsten Arbeiten, wie das bei Künstlern meist der Fall ist. Am Ende ist es ein Kompromiss geworden, und es wurden vor allem die von Tübke gewünschten Werke ausgewählt: Manieristisch angehauchte Aktstudien und Strandbilder, die in Zingst an der Ostsee entstanden beziehungsweise von da inspiriert sind. Er hatte noch einen weiteren Schwerpunkt: Tübke hat sich früh für die Folgen des Nationalsozialismus und die Kontinuität des Faschismus in Westdeutschland interessiert. Die DDR vertrat die Generalthese, dass der Faschismus in West-Deutschland nicht ausgemerzt wurde. Dafür gibt es auch Beispiele, etwa Hans Globke, der Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetzte, der später als Referent für Konrad Adenauer tätig war. Diese Thematik hat Tübke in der Gemäldeserie "Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze" verhandelt, die 1971 in Italien präsent war. Einige diese Bilder sind auch jetzt bei uns in der Ausstellung vertreten. Dass es solche Kontinuitäten auch in der DDR gab, hat Tübke ausgeblendet.
Wie wurde die Ausstellung in Italien aufgenommen?
Es war eine sehr erfolgreiche Ausstellung, die für Tübke einen großen Karrieresprung bedeutet hat. Es war seine bis dahin größte Einzelausstellung mit 38 Gemälden sowie 186 Aquarellen und Zeichnungen. Die italienische Anerkennung hat ihm sowohl in der DDR als auch in der BRD einen Reputationsschub verliehen. Aus heutiger Sicht war Italien der Dreh- und Angelpunkt seiner Karriere.
Wurden die Bilder 1971 auch verkauft?
Ja, die zum Verkauf vorgesehenen 12 Gemälde konnten alle verkauft werden, zudem zahlreiche Zeichnungen. Und der Erlös wurde zwischen Tübke und den staatlichen Stellen aufgeteilt. Angeblich gingen 85 Prozent an den Staat und 15 an Tübke. Ich vermute, dass Tübke am Ende umgerechnet rund 20.000 Mark erhielt, teils in DDR-Mark, teils in italienischen Lire, teils in Gutscheinen für den "Intershop". Also eine ordentliche Stange Geld. Etliche der nicht verkauften Gemälde gelangten schon bald in staatliche Sammlungen der DDR.
Warum hatte das Ministerium für Kultur Interesse an dieser Ausstellung?
Zum einen wegen der erwartbaren Deviseneinnahmen, zum anderen wegen des Propaganda-Effekts. Im Katalog zur Ausstellung hat ein anonymer Schreiber des Ministeriums für Kultur seine spätstalinistische Vorstellung von Kunst ausgebreitet. Was er da schreibt, hat nichts mit den Werken zu tun. Entweder hat er Tübkes Bilder nicht gesehen, oder er hat sie nicht verstanden. Der italienischen Kritiker Roberto Tassi hingegen beschreibt die Bilder in seinem Text euphorisch und referiert sehr genau deren Bedeutung.
Tübke war nach 1971 mehrfach in Italien. Was faszinierte ihn so an dem Land?
Das ist schwer zu beantworten, denn Tübke hat sich überraschend wenig zu Italien geäußert. Anders als Goethe. Der taumelte praktisch durch Italien, und seine "Italienische Reise" ist voll von Superlativen. Das gibt es von Tübke nicht, obwohl er ab seiner ersten Italienreise so oft wie möglich da war, allein sechsmal bis 1980. Das hat sich nach der Wiedervereinigung fortgesetzt. Er kannte Leute auf Sizilien und auf Capri. Tübke dachte ja auch, er sei die Fleischwerdung eines italienischen Künstlers aus der Renaissance.
Ist das belegt?
Ja, mehrfach. Er hat immer wieder beschrieben. Er kam in eine toskanische Landschaft und meinte: "Hier war ich schon einmal!" Das ist auch eine Art Verweigerung der Gegenwart, nach dem Motto: Ich gehöre eigentlich nicht hierhin, sondern einem überzeitlichen Kontinuum an.
Hatten Tübkes Italien-Reisen Einfluss auf seine Arbeit in der DDR?
Der erste Italienaufenthalt hat sich auf sein erstes großes Wandbild "Arbeiterklasse und Intelligenz" ausgewirkt, das formal vom italienischen Manierismus inspiriert ist. Er hatte dieses Bild vor seiner Italienreise im Frühjahr 1971 begonnen und zwei Jahre später vollendet. Es sind bestimmte Bewegungsfiguren, die in der Art italienischer oder Florentiner Manieristen gemacht sind. Man erkennt die Farbigkeit und Figürlichkeit und ein bisschen Veronese. Aber es gibt kein Gemälde, das eindeutig als Vorbild fungierte. Der italienische Einfluss ist nicht direkt ablesbar im Sinne konkreter Vorbilder.
Trotzdem gehen Sie soweit zu sagen, Dreh- und Angelpunkt von Werner Tübkes Karriere sei Italien gewesen. Warum gibt es dann erst eine umfassende Ausstellung zum Thema?
Das ist eine gute Frage. Es gab 2004 eine Ausstellung in Bad Frankenhausen, die sich Tübkes Reisen in den Süden gewidmet hat, also auch nach Griechenland, Spanien und Frankreich. Aber Italien hatte eine weit größere Bedeutung. Sein persönlicher künstlerischer Nachlass, der in die Tübke Stiftung Leipzig eingegangen ist, hat einen relativ hohen Anteil von Werken, die sich mit Italien befassen. Es kann gut sein, dass das Ausbleiben einer großen Retrospektive dazu auch damit zusammenhängt, dass durch die Wiedervereinigung erst einmal alle Staatskünstler der DDR abgewertet und daher selten ausgestellt wurden. Mit der fortschreitenden Globalisierung steht Italien zudem weniger im Zentrum kulturpolitischer Strategien.
Gab es jetzt einen Anlass für die Ausstellung?
Die vor 20 Jahren gegründete Tübke-Stiftung hatte schon lange den Plan für eine Ausstellung, die aber immer wieder verschoben werden musste, auch aufgrund der Pandemie. 2022 sind die Bestände der Stiftung dann ins Museum der bildenden Künste gewandert, weil deren Aufbewahrung im Dachgeschoß der Tübke-Villa in Leipzig konservatorisch nicht zu verantworten war. Museumsdirektor Stefan Weppelmann hatte die Idee für "Tübke und Italien", die nun rund 50 Exponate umfasst, darunter Leihgaben aus dem Albertinum Dresden, der Hamburger Kunsthalle und den Uffizien in Florenz. Das Ganze ist in nur wenigen Monaten entstanden, auch weil es gute wissenschaftliche Vorarbeiten durch die Stiftung gab und weil Studierende des Instituts für Kunstgeschichte sich maßgeblich an der Sache beteiligt haben.
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig?
Dieses Format haben wir schon häufig angeboten: Die Studenten und ich sowie in diesem Fall drei Gastautorinnen schreiben Katalogtexte. Wir simulierten die Ausstellung an einem selbstgebastelten maßstäblichen Modell sowie mit Dummies aus Packpapier an den Wänden des Museums. Leihverkehr, Versicherung und Budget laufen natürlich übers Museum. Das ist gut organisierte Teamarbeit.
Welche Schwerpunkte setzt die Ausstellung?
Ausgestellt sind einige der Werke, die 1971 in Italien zu sehen waren. Am Beginn aber steht Tübke im Verhältnis zum idealen Italienbild: leuchtende Landschaften, Tempelruinen vor glühendem Himmel und schöne Menschen. Eine Leitidee ist das Detail: Bei den Werken Tübkes aus den 70er-Jahren sind dort die Widersprüche zu entdecken. Wichtig ist, dass man sich auf die Bilder einlässt und sie auch wirklich anschaut. Es gibt Bilder, in denen Tübke recht deutlich Gesellschaftskritik an den sozialen Verhältnissen in Italien und Sizilien äußert. Kurz darauf leugnete er das in Interviews und behauptet, er wollte keine politischen Bilder malen. Er zeigt eben nicht einfach das Elend der Arbeiterklasse und das Luxusleben der Großgrundbesitzer. Wenn man sich die Bilder genau anschaut, wird deutlich, dass es kein schlüssiges Gesamtbild ergibt. Das ist typisch für Tübke: Er schwelgt in einem detailversessenen Manierismus, einem Stil, der von Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt ist.
Würden Sie so weit gehen, dass er diesen Stil gewählt hat, um durch die Form eine inhaltliche Aussage zu treffen?
Seine Wahl des Manierismus ist eine Stilentscheidung, der er sich nachweislich bewusst war. Manierismus ist für einen Künstler, der in der Diktatur arbeitet, ein Statement. Die DDR-Kunstgeschichtsschreibung hat sich beispielsweise gegen den Manierismus positioniert, weil sie in ihm einen spätbürgerlichen, dekadenten Stil sah. Für Tübke aber war der Manierismus sein persönlicher Idealstil. Er war, wie Roberto Tassi im Katalog zur Ausstellung von 1971 schreibt, der "Stil totaler Freiheit". Er implizierte noch genug des Renaissance-Ideals, das der offiziellen Staat-Doktrin entsprach, schuf aber zugleich so viele Freiräume, dass man sich als Künstler gut darin einrichten konnte.
Wann sind Sie Tübke zum ersten Mal begegnet?
Persönlich habe ich ihn nie kennengelernt. 1996, kurz vor meiner Berufung zum Professor für Kunstgeschichte an der Universität Leipzig, saß ich im alten Rektoratsgebäude. Da stand eine Bank und direkt gegenüber war das Gemälde "Arbeiterklasse und Intelligenz". Da habe ich mir damals noch nicht viel dabei gedacht. Der Kunstkritiker Eduard Beaucamp hat mich später mit Brigitte Tübke und mit der Tübke-Stiftung bekannt gemacht. Ich habe in der Folge viele Abschlussarbeiten zu Tübke betreut. Dessen Italienneigung passt auch ganz gut zu meinen Vorlieben, denn ich habe selbst lange in Italien gelebt.
Tübke ist am 27. Mai 2004 gestorben, also genau vor 20 Jahren. Was hat er uns heute zu sagen?
Lernt sehen! Schaut euch die Kunst genau an! Und denkt darüber nach!