Fotografie ist das Medium, den flüchtigen Augenblick festzuhalten: just in dem Bruchteil einer Sekunde, da das Bild, das es erst noch werden wird, durch die Linse fällt. Je kürzer die Belichtungszeit, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass das menschliche Auge den Moment, der da festgehalten wird, gar nicht als solchen bemerkt hat. Die Fotografie kann Ansichten enthüllen, die wir mit unseren eigenen Sinnen nie zu fassen kriegen.
Das gilt im übertragenen Sinne auch für Anblicke, die wir wahrnehmen, die aber dem Gedächtnis entschwinden, ehe ihre andauernde Bedeutung erkannt wird. Betrachtet man historische Aufnahmen solcher Art, reibt man sich die Augen ob des nie oder nicht ausreichend Wahrgenommenen.
Und doch kann die Fotografie mit einem Mal zum visuellen Gedächtnis von Geschichte werden, von zeitlichem Verlauf und der sich darin vollziehenden Veränderung. Langzeitstudie statt Augenblick! So jedenfalls setzt Michael Ruetz seit den 1960er-Jahren die Fotografie ein. Aus dem Zeitzeugen und Beteiligten der Studentenbewegung, der die wohl authentischsten Momente des Aufbruchs um 1968 überliefert hat, wurde ein distanzierter Chronist des Wandels. Der vollzieht sich beständig, gelangt aber erst wirklich ins Bewusstsein, wenn Ansichten derselben Örtlichkeiten, aber in zeitlichem Abstand aufgenommen, nebeneinander stehen.
Bewusster Zeuge des Wandels
"Timescapes" – man könnte es mit "Zeit-Landschaften" übersetzen – nennt der 1940 geborene Michael Ruetz seine Serien, die er in Berlin, in Deutschland und in ganz Europa angelegt hat. Mittlerweile sind es über 600 mit insgesamt etlichen tausend Aufnahmen. Eine Auswahl unter dem Titel "Poesie der Zeit. Timescapes 1966–2023" wird jetzt in der Berliner Akademie der Künste gezeigt.
Verblüffend sind die Zeitreihen, weil sie den bei der chronologisch ersten Aufnahme gewählten Standort der Kamera unbedingt beibehalten, einschließlich Blickwinkel und Fluchtpunkt. Man ist geneigt, die Aufnahmen übereinander zu legen, um das Gebliebene um so fester hervortreten zu lassen, das Gewandelte dafür um so schemenhafter zu verstreichen. So wie auf Fotografien des 19. Jahrhunderts, wo zufällige Passanten nicht mehr als grauen Nebel hinterlassen, wenn überhaupt.
Die Ausstellung am Pariser Platz beschränkt sich auf Berliner Motive. Man meint, bewusster Zeuge des Wandels gewesen zu sein, und kann doch nur mit Mühe ins Gedächtnis zurückrufen, was am Anfang einer jeden solchen Reihe stand. Neubauten füllen Brachen, Straßen werden überwuchert, bisweilen kommt es zum schärfsten Kontrast, wie in "Timescape 312" zwischen DDR-Palast der Republik und Bau des Humboldtforums. Da stoßen politische Systeme aufeinander, wie auch am Potsdamer Platz, der in den 1990er-Jahren aus seinem erzwungenen Dornröschenschlaf herausgerissen und vollständig überformt wurde.
Ein unmerklicher wie unerbittlicher Vorgang
Am nächsten dran am Untertitel der Ausstellung "Poesie der Zeit" ist die Serie 423. Albrechts Teerofen am Südwestrand Berlins ist ein Waldstück, durchschnitten von einer früheren, längst renaturierten Autobahn. Dieses voranschreitende Wachstum wird auf den Breitwandfotos als ebenso unmerklicher wie unerbittlicher Vorgang fassbar. Diese und vier weitere "Timescapes" sind übrigens als Leporellos in der Ausstellung zu erwerben und verlängern die Freude an dieser nobel gestalteten Ausstellung bis in die eigenen vier Wände.
Alle Fotografien erzählen eine Wahrheit, aber nicht immer "die" Wahrheit. Sie bieten Anhaltspunkte, wecken die eigene Erinnerung, verlangen Erklärung. Sie sind Momente, genau jene, die das jeweils beigegebene Datum vermerkt; sie liefern Zeitsprünge. Das Dazwischen muss der Betrachter selbst ausfüllen. Die Fotografie kann mehr, als das Auge im jeweiligen Augenblick vermag. Aber sie kann auch weniger, als der Verstand an ihrem Abbild erkennt. Oder, offen gesagt, konstruiert. So ist das eben mit Geschichte.