Ein Zug fährt durch indisches Grünland. Er ist überfüllt, sodass die Passagiere aus den Türen quellen, sich aufs Dach gesetzt haben. Eine Nahaufnahme zeigt, dass die Wagen mit weißen, grauen und schwarzen Farbflecken überzogen sind. Ist das abgeblätterte Farbe oder Schmutz, angesammelter Feinstaub? Die Kamera entfernt sich, zoomt heraus und aus den Farbschattierungen entstehen Augenpaare in Schwarz-Weiß. Voilà, eine der überdimensionalen fotografischen Collagen des Künstlers JR.
Es ist die Anfangsszene des Films "Tehachapi", der beim Münchner Dokumentarfilmfestival Dok.fest gezeigt wird. Der Titel geht auf den Namen eines Hochsicherheitsgefängnisses in Kalifornien zurück, das durch JR zum Ort der Kunst wird. Denn niemand Geringeres als der preisgekrönte französische Fotograf und Street Artist entschied sich im Jahr 2019 dazu, genau dort eine seiner monumentalen Papiercollagen zu realisieren. Nicht allein, sondern mit der Unterstützung von 28 Häftlingen. Bisher ist JR besonders für seine großformatigen, fotografischen Kunstwerke an ikonischen öffentlichen Plätzen wie dem Pariser Louvre, der Tower Bridge in London oder auch in den brasilianischen Favelas bekannt. So bedeutete dieses von der Außenwelt abgeschirmte Projekt auch für ihn Neuland. Ein Experiment auf sozialer, künstlerischer und emotionaler Ebene.
Dass sich JR gerade für dieses Gefängnis entscheiden würde, war nicht abzusehen, wie er in der Anfangssequenz erklärt. Der ausschlaggebende Grund war der unbegrünte Innenhof. Denn Papier hafte nun einmal nicht auf Gras, dagegen habe die Betonwüste von Tehachapi ausgezeichnet zu seinem Vorhaben gepasst. Sein Plan: Häftlinge abzulichten und ihre Porträts großflächig gemeinsam mit ihrer Hilfe auf den Boden zu tapezieren, sodass sie aus der Vogelperspektive gut sichtbar sind. Dann ein interaktives Foto des Kunstwerks online erstellen, in dem die Porträts der Männer zusammen mit einer Audionachricht ihrer Wahl für die Außenwelt zugänglich werden.
Zum ersten Mal seit Jahren Orangen gekostet
Als JR den 28 Insassen im Film von seiner Idee erzählt, wirken diese erstmal recht unbeeindruckt. Bullige, kahl rasierte Männer, übersät mit Tattoos. Einer trägt ein dickes Hakenkreuz auf seiner Wange, ein anderer den Schriftzug "Skinhead" auf seinem Hinterkopf. Es sind Menschen, die auf den ersten Blick Gefährlichkeit ausstrahlen. Kein Wunder: Viele von ihnen haben in jungen Jahren als Mitglieder von Gangs gemordet und müssen nun ihr gesamtes Leben in Tehachapi verbringen. Einem Gefängnis, das menschenunwürdige Methoden anwendet – manche der Insassen werden wie Hunde in Käfige auf den Hof gesperrt.
Doch nun bekommen die Männer die Möglichkeit, an einem großen Projekt teilzunehmen und gehen offensichtlich darin auf. Die Wertschätzung vonseiten des Künstlers, die Perspektiven, die Gemeinschaft und die Chance, ihre Geschichte zu erzählen, verändern diese Menschen. Das mag wie ein schönes Märchen klingen, aber es ist vor allem ein Moment der Hoffnung – die Hoffnung auf Teilhabe, vielleicht sogar Resozialisierung.
Die Zuschauer dürfen die Häftlinge durch die künstlerische Arbeit kennenlernen. Sie sind dabei, als diese zum ersten Mal seit zehn Jahren Orangen kosten und über das Kunstwerk verloren geglaubte Beziehungen zu ihren Familien knüpfen. Mit der Zeit wird klar, wie viele von ihnen ihre Taten bereuen, auf eine zweite Chance hoffen. Und tatsächlich: Bei manchen wird sich das Projekt positiv auf die Haftstrafen auswirken. "Tehachapi" ist wahrlich ein Film, der unter die Haut geht.