Als Architekt könnte er heute Häuser entwerfen, als Tänzer könnte er die Bühnen erobern oder als Sänger allabendlich vor Hunderten von Fans auftreten. Nichts von alledem. Massimiliano Pironti sitzt oft viele Stunden, teils Tage am Stück alleine im Atelier seiner Stuttgarter Wohnung, er tupft mit dem spitzen Pinsel zart die Ölfarben auf Aluminiumtafeln, mischt sie wieder, hier begutachtet er kritisch, dort bessert er aus. So haucht er seinen Porträts oft über mehrere Monate hinweg ein Leben ein.
Wie mit Ölfarbe übertragene Fotos wirken Pirontis Werke, darunter das Gemälde seiner 94 Jahre alten Großmutter, das in der National Portrait Gallery in London ausgestellt wurde, oder das Porträt des Holocaust-Überlebenden Arek Hersh. Als eines der "Kinder von Windermere" hoffte das jüdische Waisenkind im britischen Windermere am Lake District auf eine Zukunft in England und fand sie dort auch. Selbst der heutige britische König Charles III. ist schon aufmerksam geworden auf Pironti, den autodidaktischen Quereinsteiger, als das Bild in der Queen’s Gallery im Londoner Buckingham-Palast gezeigt wurde.
Den Vergleich mit Fotos weist der Italiener aber zurück. "Ich stelle mir den Menschen aus meiner Sicht zusammen", erzählt er. "Deshalb mag ein Werk auch aussehen wie ein Foto, es ist aber etwas ganz anderes, es ist viel intensiver." Stets sehe er in seinen gemalten Menschen eine Geschichte, die er übertrage, erklärt Pironti. "Ich will dem Leben allgemein nachspüren und das kann ich am besten, wenn ich Menschen male, die für mich die komplexesten und auch kompliziertesten Wesen sind. Ich will, dass man in meinen Gemälden dieses Leben spürt." Es gehe nicht um die Technik, es gehe um Gefühle.
"Das Bild ist eine Reflexion des Lebens"
Die Persönlichkeit seines Gegenübers sichtbar zu machen, das ist auch das, was Pironti aus Sicht des Kunstexperten Oliver Class zu einem "außerordentlich begabten" Maler macht. "Fotorealistische Malerei ohne Geist ist nah am Kitsch", sagt der Sachverständige. "Aber mit einer solch inneren Bedeutung wird es zu großer Kunst." Pironti besitze eine tiefgreifende Sicht auf den Menschen, der ihm gegenübersitze. "Seine Qualität kommt nicht alleine aus der Genauigkeit heraus, sondern es gelingt ihm auch, das Thema handwerklich überzeugend und auch geistig zu bewältigen", sagt der Leiter der Kunstversicherungssparte der Allianz Suisse.
Pirontis Porträt seiner Großmutter im Stuttgarter Kunstmuseum zum Beispiel - sie hängt inmitten der Meisterwerke von Otto Dix - zeigt seine greise Verwandte, tief und friedlich schaut sie den Betrachter an, es scheint, als würde sie gleich blinzeln, lächeln vielleicht. Jede Faltenlegung ihres grünen Pullovers ist zu erkennen, die knochigen Finger, die die rote Wärmflasche mit der Aufschrift "Made in China" umgreifen. Für immer wollte Pironti sich das Bild seiner Großmutter einprägen, erzählt er. Sie habe ihren Tod vorausgeahnt, das habe er in ihren Augen gesehen. Die Wärmflasche als Zeichen der Vergänglichkeit, die leicht wehende Küchengardine am offenen Fenster als Symbol für das Ewige. "Das Bild ist eine Reflexion des Lebens", erklärt Pironti.
Werk und Ankauf durch den Freundeskreis des Stuttgarter Kunstmuseums seien "ein großer Glücksfall für die Sammlung", sagt dessen Direktorin Ulrike Groos. "Schon nach kurzer Zeit avancierte Massimiliano Pirontis Großmutter zu einem Publikumsliebling." Auch Henrik Huydts, der Vorstandsvorsitzende der Freunde des Kunstmuseums, ist überzeugt: "Das Bild hat eine Seele. Jedes Detail erzählt seine Geschichte."
Live-Video-Sitzungen während Corona
Mit Hersh war es noch herausfordernder, denn Kennenlernen und Malen musste ihn Pironti während der Corona-Pandemie über Live-Video-Sitzungen. Auf seinem Werk umgreift der Senior mit der Hand den Jackett-Ärmel am linken Unterarm, als würde sie eine Wunde verdecken. Dort, an jener Stelle, ist die Häftlingsnummer im deutschen KZ Auschwitz eintätowiert worden. Als einziger Künstler außerhalb Großbritanniens hatte Pironti damals den Auftrag erhalten, eines von sieben Porträts von Holocaust-Überlebenden zu malen.
Auch in Lauffen am Neckar hängt ein Bild Pirontis: Im Geburtshaus Hölderlins ist seine zeitgenössische Interpretation des Dichters in der Dauerausstellung zu sehen. Einer seiner "Stammkunden", ein italienischer Unternehmer, hat gleich mehrere Werke bestellt. Der ehemalige Tübinger Uni-Rektor und jetzige Präsident der Stiftung Weltethos, Bernd Engler, wird Pironti bald ebenfalls Porträt sitzen: Das Werk soll in der seit 1477 geführten Rektorengalerie der Universität einen Platz erhalten.
Das Werk, das letztlich den Anstoß gab, sein Glück ganz als Maler zu versuchen, hängt über dem Sofa im Wohnzimmer Pirontis neben dem gemalten Abbild der Großmutter seines Partners. "A throne in the West" zeigt Bathoni Puplampu, eine Tänzerin, die der Italiener bei einem gemeinsamen Musical-Engagement in Oberhausen getroffen und gemalt hat. Während sie sich für den Tanz in London entschieden hat, kehrten ihre Eltern nach Ghana zurück. "Ihre Zerrissenheit wollte ich mit diesem melancholischen Porträt festhalten", sagt Pironti.
"Ich war nie weg von Kunst"
Zerrissen, das war er lange Jahre selbst. In der Nähe von Rom, in der Industriestadt Colleferro, aufgewachsen, malt Pironti schon im Kindesalter. Er kopiert im Grundschulalter Werke von Michelangelo und Rafael. "Als Kind habe ich immer nur gemalt. Maler zu werden, das war mein Traum", erinnert er sich. Der schüchtern wirkende Mann lernt das Zeichnen am Kunstgymnasium, studiert kurz und erfolgreich Architektur, um doch wieder etwas ganz anderes zu unternehmen: Pironti wird professioneller Tänzer, er nimmt Gesangsunterricht und findet über das Show- und Musical-Geschäft schließlich doch einen Weg, um das Malen zum Beruf zu machen.
Aber warum immer etwas anderes und nie der Sprung? "Ich war nicht mutig genug", sagt er. "Deshalb habe ich nur getanzt und Theater gemacht. Aber ich war nie weg von Kunst."