Die Schlangen in den Giardini der Biennale waren vor dem deutschen, dem US-amerikanischen und dem französischen Pavillon auffällig lang. Am meisten Geduld brauchte man aber vor dem ägyptischen Beitrag: Wael Shawkys 45-minütigem Historien-Singspiel. Man tauschte Tipps, wie der litauische Pavillon zu finden war, der estnische und der nigerianische, die in Kirchen und Palazzi in der Stadt verteilt waren.
Doch den Goldenen Löwen gewann keiner dieser Publikumslieblinge, sondern Australien. Es ist eine dunkle, subtile Installation, die der "First Nations Künstler"-Archie Moore ein wenig abseits der großen Besuchermassen gebaut hat. Wenn sich die Augen an das Dunkel des Pavillons gewöhnt haben, sieht man ein von einem Wasserbecken umgebenes, halbhohes Plateau, das von vermeintlich architektonischen Strukturen belegt ist, ein wenig wie das Stelenfeld von Eisenmans Berliner Holocaustmahnmal. Doch es sind Stapel von Dokumenten – geschriebene Zeugnisse der Unterdrückung. Es handelt sich um Untersuchungen zum Tod von indigenen Inhaftieren in australischen Gefängnissen und Unterlagen zu verschiedenen Schikanen und Misshandlungen, die Menschen aus der Familie des Künstlers selbst erlebt haben.
Doch noch wichtiger ist die Wandzeichnung, die Moore in Kreide auf die schwarzen Wände und Decken gebracht hat. Es ist ein sich ins Unendliche verzweigender Stammbaum. Moore verfolgt damit seine eigene Herkunft von den indigenen Völkern Kamilaroi und Bigambul sowie aus Großbritannien und Schottland zurück, geht dann aber weiter in mystische Vorzeiten und verbindet den Stammbaum auch mit Tieren und Pflanzen.
Ruhige Reflexion über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft
An der Decke des Pavillons erstreckt sich ein unendliches Netz von Namen, als seien die Vorfahren wie der Sternenhimmel. Moore setzt damit der indigenen Kultur Australiens ein Denkmal, die als eine der ältesten der Welt gilt. Dort sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer gleichzeitig präsent. "Kith and Kin", so der Titel in Englisch und Bigambul, sei ein Denkmal für jedes Wesen, das jemals gelebt hat. Ein Raum für ruhige Reflexion über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, so hat Moore seine Arbeit kommentiert.
Der Pavillon besetzt ein Thema, das Adriano Pedrosa und seine Jury ganz offensichtlich umtreibt: indigene Kunst. Er tut es deutlich weniger laut als beispielsweise der US-amerikanische Pavillon von Jeffrey Gibson. Was zunächst wirkte wie eine gelungene Fußnote der 60. Biennale-Ausgabe, steht nun im Zentrum. Sicherlich hätten auch andere Pavillons den Preis genauso verdient gehabt. Doch Archie Moores Entwurf passt zum Konzept – und die Ehre trifft gewiss nicht den Falschen.
Gleiches gilt für das Mataaho Kollektiv aus Neuseeland, das den Goldenen Löwen als bester Beitrag zur Hauptaussstellung bekommen hat. Das Werk der vier Māori-Frauen ist zunächst formal anschlussfähig in viele Richtungen, zwischen Architektur, Skulptur und Handwerk. Orientiert haben sie sich an ihren traditionellen Geburtsmatten, sagt Sarah Hudson, die stellvertretend für die Gruppe den Preis entgegennahm. Was sehr passend sei, da eins der Mitglieder gerade ihr erstes Kind erwarte, sagte sie sichtlich bewegt.
Ein Werk mit vielen Reflektionsebenen
Das großformatige Werk ist im vorderen Bereich des Arsenale-Geländes platziert, das häufig den Ton für die gesamte Ausstellung setzt und beim Eintreten immer besonders stimmungsvoll ist. Allerdings setzt das metallisch schimmernde Zeltdach nicht etwa auf traditionelle handwerkliche Materialien, sondern besteht aus Reflektorband, wie es beim Arbeitsschutz zum Einsatz kommt. Material, das für Sichtbarkeit sorgt, obwohl die Menschen, die diese Arbeit leisten, gesellschaftlich zu den Übersehenen zählen.
"Dies ist für diejenigen, deren Arbeit in den Hintergrund gedrängt wird, für unsere Eltern und Geschwister, wir feiern euch", schreibt das Māori Kollektiv, bestehend aus Erena Baker, Sarah Hudson, Brigdet Reweti und Terri Te Tau, dazu. "Wir kommen aus Arbeiterfamilien, unsere Materialien sind eine Ode darauf."
Die Anschlussfähigkeit des Kunstwerks besteht auch darin, dass einerseits die in dieser Biennale explizit artikulierten indigiene Anliegen und Traditionen zum Tragen kommen, doch gleichzeitig eine universelle Formensprache gewählt wurde. Die bergende Form des Zeltes ist intuitiv verständlich, zugleich hat die architektonische Eleganz der Ausführung einen großen visuellen Reiz. Und nicht zuletzt besteht die Arbeit aus einem Material, das gegenwärtige Arbeitsrealitäten aufruft, aber dennoch mit seiner blendenden Leuchtkraft einen poetischen Zauber verkörpert. Ein Werk mit vielen Reflektionsebenen.