Noura Dirani, warum ist das Museum eigentlich eine Institution, die den Wandel nicht so gerne mag?
Das kommt ganz darauf an, wer zu Gast in ihr ist. Vor allem die Kinder verlieren schnell Berührungsängste. Und dann wiederum hören wir immer mal wieder Stimmen von Menschen, die sich ein bisschen darüber erzürnen. Respektlos sei es, dass man die Kunst anfassen soll. Denn das "Nicht Anfassen" ist eine eingeübte Praxis. Im Museum hält man sich an bestimmte Verhaltensregeln. Obwohl es schon spätestens seit den 70er-Jahren mit der neuen Museologie losging, dass diese Fragen diskutiert werden. Mit Blick auf die institutionelle Öffnung und Hinwendung zum Publikum gibt es vorbildliche Beispiele, wie das Grassi Museum in Leipzig oder die Kinderbiennale der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Sie müssen bitte kurz erklären, was Sie gerade in der Kunsthalle St. Annen mit Ihrer ersten Ausstellung "Hello Lübeck!" zeigen.
Wir haben die Schaumstoff-Module "The Beach" von Andreas Angelidakis, die er für die Kunsthalle konzipiert hat, als eine permanente Installation, quasi als Fundament für die Neuausrichtung dieses Hauses, aufgestellt. Die Module dürfen bewegt und gestapelt werden und stehen auch sehr zentral im Eingangsbereich der Kunsthalle, der nun kostenfrei zugänglich ist. Dann gibt es die Arbeit von Ahmet Öğüt. Für die hat er Trampoline aufgestellt, mit denen man auf Augenhöhe der drei Werke springen kann, die er aus unserem Depot ausgesucht hat. Arbeiten von Malerinnen, wir haben nämlich festgestellt, dass nicht mal zehn Prozent der Sammlung Werke von Künstlerinnen sind.
Es geht ihm da um die Frage nach Zugänglichkeit zur Kunst und zur Kunstgeschichte.
Öğüt arbeitet oft mit Ironie. Es geht um Konstruktion und Dekonstruktion von Kunstgeschichte. Auch bei der Performancekünstlerin Nezaket Ekici geht es darum. Sie war eine Meisterschüler von Marina Abramovic und hat ein großes Puzzle gemacht, das sie überall in der Kunsthalle verteilt hat. Die Menschen werden eingeladen, diese Teile zusammenzubringen. Und dann haben wir aktuell noch Benjamin Butter.
Der will gleich, dass man selber malt.
Genau, der ganze Raum ist in Papier eingeschlagen, den kann man bemalen oder beschriften. Und bald kommt Constructlab - ein Design und Künstlerkollektiv, das einen sozialen Raum schaffen wird. Es soll ein Parlament für die Stadtbevölkerung werden, die ihre Stimmen in die museale Arbeit einbringen kann.
Wie soll denn das gehen?
Das zu gestalten, ist Teil des Prozesses. Wir arbeiten mit Vertreterinnen der Stadt und mit Schülerinnen und Schülern zusammen und diskutieren gemeinsam darüber, was dieses Parlament können muss, was gebraucht wird, wie es aussehen soll. Mein Wunsch ist, dass wir die Menschen dazu einladen, sich an der Programmplanung der Kunsthalle zu beteiligen. Ich bin bereit, auch ein Vetorecht zu geben, um ein Programm zu verändern oder stoppen zu können.
Und dann haben sie auch den Künstler Christian Jankowski eingeladen.
Ab April zeigen wir das Ergebnis seines Prozesses. Er hat in Lübeck Performances im Stadtraum gemacht und gemeinsam mit einer vierten und einer siebten Klasse erarbeitet, wie die Stadt von morgen aussehen soll. Sie haben ihre Wünsche in kleine Knetfiguren gefasst, und drei von ihnen hat er überdimensioniert in Messing gegossen. Sie sind gerade gestern angekommen. Ich habe mich sehr gefreut, weil sie so toll sind. Und damit schreiben sich die Kinder natürlich in die Kunstgeschichte ein und markieren den Ort auch als einen Ort für sich. Damit steigt die Identifikation des lokalen Publikums mit dieser Kulturinstitution.
Warum muss ein Museum eigentlich so dringend kommunizieren mit den Menschen?
Es geht um die Frage, welche Rolle das Museum überhaupt innerhalb unserer Gesellschaft spielen kann. Es kann ein Ort sein, an dem Menschen zusammenfinden, die sonst im Alltag keine Schnittstelle haben, die in den Austausch kommen, um die Fragen der Gegenwart und Vergangenheit, aber auch das eigene Handeln mit Blick auf die Zukunft zu diskutieren. Dazu muss man sich auch fragen, wer Teil dieser Gesellschaft ist und wie sich dieser im Museum abbildet. Wer wird repräsentiert, welche Geschichten werden erzählt, welche werden ausgeblendet? Das hat maßgeblich damit zu tun, ob sich die Menschen mit dem Haus und seinen Inhalten identifizieren und uns besuchen oder nicht.
Demnächst soll es eine Arbeit im Außenraum geben - für die, die nicht kommen.
Am 14. April, zur Eröffnung des zweiten Teils, wird Stephanie Lüning eine große Kunstaktionen vor dem Holstentor installieren. Eine Schauminstallation. Und da geht es um die Frage der Vergänglichkeit. Denkmäler sind Orte der Erinnerung. Aber dass auch die Erinnerung vielfältig ist, darauf macht die Aktion aufmerksam. Es geht auch darum, Menschen zum Teil eines Kunst-Ereignisses werden zu lassen. Mit dieser Aktion verlassen wir das Museum und gehen in den Außenraum und versuchen dort, die Kunst einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen. So eine Aktion stellt auch die Frage: Welche subversiven Potenziale hat die Kunst? Vielleicht kann sie die Menschen bewegen, Dinge in Gang zu setzen, zu aktivieren. Ich glaube, diese Kraft kann Kunst aufbringen.
Und warum sollte die nicht so kunstferne Welt von der nächsten Biennale direkt nach Lübeck kommen?
Es ist natürlich ein wunderbarer Ort. Die Kunsthalle wurde ja auf der Ruine der alten Klosterkirche gebaut und ist Teil des mittelalterlichen Klosterkomplexes. Da verbindet sich Modernität mit dem Unesco-Weltkulturerbe, das die Stadt Lübeck ist. Und wir zeigen neben diesen immersiven Kunstwerken auch Christian Jankowskis Arbeit, die gerade auf der 16. Biennale in Cuenca, Equador, zu sehen ist und anschließend hierher kommt. Sie wird erstmalig in Deutschland zu sehen sein. Es ist eine Arbeit zum Riechen. Jankowski hat 18 Düfte von Parfümeuren entwickeln lassen, die nach Demokratie, Verschwörungstheorie oder Nachhaltigkeit riechen. Also all diese großen Begriffe, die uns die aktuelle Weltlage beschreiben.
Das lässt sich nicht bei Instagram riechen.
Und dann befindet sich in direkter Nachbarschaft der Kunsthalle auch das St. Annen Museum, mit einer der wichtigsten Sammlungen spätmittelalterlicher Altarretabeln.
Klingt weniger ausgeflippt.
Wir zeigen jetzt mit "Hello Lübeck!" vor allem partizipative Kunst, im Prinzip als Aufschlag. Aber das wird nicht immer so sein. Was bleibt, ist das Community Building Programm, das für die kontinuierliche Öffnung der Kunsthalle hin zur Stadtbevölkerung sorgen soll. Wir haben verschiedene Formate, etwa Partys, die wir in der Kunsthalle veranstalten. Oder unser Art Dinner. Da kochen die zeitgenössischen Künstlerinnen in Kooperation mit unserem inklusiven Kunstcafé. Und zu den Abenden werden vor allem bedürftige Menschen eingeladen.
Also nicht nur Kuratoren, Kritiker und Wichtigtuer.
Die Hälfte der Tickets sind VIP-Tickets für den kostenfreien Zugang zum Programm und zur Ausstellung, und die vergeben wir an die Tafel Lübeck. Die entscheidet, an wen sie gehen. So ermöglichen wir Teilhabe und Austausch.
Das klingt alles hervorragend. Und auch sehr anstrengend.
Es ist viel mehr Arbeit, mit den Menschen zu arbeiten, aber es ist auch viel mehr Spaß. Man muss sich immer die Frage der Relevanz stellen. Am Ende arbeiten wir mit öffentlichen Geldern. Für wen hat das eigentlich einen Mehrwert? Und welche Relevanz hat das? Das muss ich immer beantworten können. Und das ist mit Mehrarbeit verbunden, weil man Dinge aushandeln muss. Man muss diskutieren.
Und wie geht es in den nächsten Monaten bei Ihnen in Lübeck weiter?
Die Ausstellung "Extra Time" wird Mitte September 2024 eröffnet. Ich habe Heather Phillipson, eine britische Künstlerin, eingeladen, zum "Zauberberg" zu arbeiten. Thomas Mann ist in Lübeck ja nicht wegzudenken, und der "Zauberberg" wird 100. Sie hat sich dem Hauptmotiv des Romans gewidmet, der Zeit. Es geht ja einmal um die individuell erlebte Zeit in Phasen von Umbrüchen und konkret um die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg - geprägt vom Konflikt zwischen der Demokratie und widerstreitenden Kräften. Und sie verwandelt im Prinzip die ganze Kirche in ein begehbares Kunstwerk, also in ein Portal der Imagination, in der die Krähe als Vorbote von Umbrüchen eine Rolle spielt. Und dann arbeiten wir gerade an einer großen und wichtigen Ausstellung zur Freiheit. Die wird 2025 stattfinden. Die Ausstellung heißt "Uns gehört die Freiheit" und wird sich, ausgehend aus dem Sammlungsbestand, mit der politischen Dimension der Kunst des von zwei Weltkriegen geprägten 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart auseinandersetzen. Dabei spielt der Protest, die Zensur aber auch die Frage, wie wir uns als Gesellschaft erinnern, eine wesentliche Rolle. Das Projekt plane ich gemeinsam mit Monica Juneja, um die Freiheit auch aus globalhistorischer Perspektive zu beleuchten.
Können Sie da schon Namen nennen?
Das ist noch etwas früh. Aber was ich sagen kann, ist, dass ich die Sammlung um weibliche und außereuropäische Positionen erweitern möchte, um den Kanon zu sprengen. Oder nein, eher zu erweitern.
Freiheit und außereuropäische Positionen: Klingt, als hätten Sie keine Angst vor schwierigen Themen?
Kulturinstitutionen werden gerade verstärkt zum Austragungsort gesellschaftspolitischer Debatten, und da kommen Fragen auf: Welche Rolle spielen denn die Institutionen? Welche Rolle hat die Kunst? Welche Rolle spielt die Freiheit der Kunst? Brauchen wir Leitlinien?
Und?
Wir müssen Aushandlungsorte bleiben, über die Dinge sprechen, damit es zu einem Verständnis füreinander kommt. Das halte ich für wichtig, gerade in der Demokratie. Nichtsdestotrotz haben wir als Kunsthalle gemeinsam mit dem benachbarten Museum Leitgedanken formuliert, die uns durch unsere Arbeit führen. Wir sind ein offenes Museum, versuchen, Barrieren abzubauen und uns im Sinne der demokratischen Leitlinien für Vielstimmigkeit einzusetzen, um Toleranz und eine diverse Gesellschaft zu fördern. Und wir sprechen uns gegen jede Form der Diskriminierung aus. Und dann geht es uns auch darum, die eurozentristische Deutungshoheit zu hinterfragen. Außerdem legen wir einen Fokus auf Nachhaltigkeit. Nachhaltige Beziehungen genauso wie nachhaltig im Sinne der aktiven Förderung des Klimaschutzes. Und unser letzter Punkt ist das soziale Museum. Also das Museum zu einem Ort des lebendigen Austauschs für Menschen aller Generationen zu machen.