An überfrachteten kulturellen Zuschreibungen fehlt es Wien nun wirklich nicht: Ehemals Zentrum der Habsburgermonarchie, heute Bundeshauptstadt Österreichs. Grab des Heiligen Römischen Reiches, Geburtsstätte der Psychoanalyse. Zuhause des Jugendstils, Heimat der Sachertorte. Zwischen 1814 und 1815 wurde Europa hier neu verteilt. Danach: Wiener Moderne, Wiener Schule, Wiener Sezession, Wiener Aktionismus, man kennt das.
Doch Wien war nicht nur für das 19. und 20. Jahrhundert eine denkbar geeignete Kulisse, sondern rückt zunehmend in den Fokus der Gegenwartskunst: Neue Galerien, neue Messen, neue Formate, junge Generationen von Künstlerinnen und Künstlern, Kuratorinnen, Forschenden. Lange Zeit galt die Stadt vor allem als Zentrum darstellender Künste, seit Jahrzehnten wandelt sich dieser Eindruck. Was entwickelt sich gerade in Wien, und woher weht der frische Wind?
Vier Hauptgründe für den Kunst-Boom haben sich in den Gesprächen herauskristallisiert, die für diesen Text geführt wurden. Jan Gustav Fiedler, Künstlerischer Direktor der Spark Art Fair, die an diesem Wochenende stattfindet, fasst sie so zusammen: “Bezahlbarer Wohn- und Atelierraum, eine reiche Kulturhistorie mit einem vielfältigen Gegenwartsprogramm und eine zunehmende Internationalisierung."
Günstige Mieten, zentrale Lage
Pro Quadratmeter fällt in Städten wie Paris (28,80 Euro), London (33,10 Euro), Amsterdam (26 Euro), Oslo (26 Euro) oder Zürich (27,90 Euro) etwa die doppelte Miete an. Nur Berlin (16 Euro) lässt sich trotz rasantem Preisanstieg mit dem immer noch günstigeren Wien (13,80 Euro) vergleichen. Doch ein aussichtsreicher Immobilienmarkt macht noch keine Kultur.
Francesca Gavin, seit Ende 2023 neue Leitung der Messe Vienna Contemporary, zählt die zentraleuropäische Lage hinzu, die kurzen Wege nach Budapest und Prag, die allgemeine Verwandtschaft zu Osteuropa. Die traditionsreichen Ausstellungshäuser Wiens werden um ein lebendiges und zunehmend diverses Programm erweitert, die stadtinterne Leihgabenpolitik erleichtert die Kontextualisierung von kunsthistorischen und aktuellen Werken, rückt zeitgenössische Positionen in internationale Aufmerksamkeit und beflügelt neue Forschung.
Womit wir beim Nährboden jeder florierenden Szene angekommen sind: Bildung. Zwei renommierte Kunstakademien, namhafte Alumni und Dozierende, eine wachsende Off-Space-Szene und öffentliche Fördermittel - so lässt sich die Rezeptur für den Wiener "Kulturdünger" in etwa zusammenfassen, der den Nachwuchs anziehen und nähren soll.
Alles so interdisziplinär hier
Das erlebt auch die Künstlerin, Forscherin und Hochschuldozentin Lucie Strecker. Sie kam vor 20 Jahren von Berlin nach Wien und empfindet seitdem "eine große Offenheit für experimentelle Formate, aber auch für einen aktiven Diskurs". Die Universität für angewandte Kunst - kurz "die Angewandte" - eröffnet diese Räume und nennt sie "Performance Lab" oder "Interdisciplinary Lab".
Diese Laboratorien ermöglichen Studierenden sowie Lehrenden, Theorie und Praxis aus verschiedenen Fachrichtungen miteinander zu verbinden. Wie ein Resultat dieser Symbiose aussehen kann, zeigte die Ausstellung “Holobiont. Life is other" im Angewandte Interdisciplinary Lab, an der neben Lucie Strecker und vielen anderen der Konzept- und Medienkünstler Thomas Feuerstein mitwirkte.
Aber kann es zu viele Experimente, zu viele Off-Spaces geben? Oder ist die Vielzahl ein Symptom für ein anderes Ungleichgewicht, das große Player vermissen lässt? Aus der Perspektive Feuersteins hat der hohe Stellenwert der freien Szene eine weitere Ursache, er spricht gar von einer "Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren". Seine Einschätzung: "Der Grund, warum es so viele Off-Spaces und Bemühungen gibt, sich als Künstler selbst zu organisieren, hängt natürlich auch mit einer gewissen Strukturschwäche zusammen."
"Dann müssen sie raus aus dem Haus"
Dabei geht es unter anderem um fehlende Sammler. Allein bei der Erwähnung eines Marktes lacht die Philosophin, Künstlerin und Akademie-Professorin Elisabeth von Samsonow: "Markt gibt es hier keinen." Ihre Empfehlung: "Wenn die Österreicher über die Grenzen ihres Landes, das etwa so groß ist wie eine asiatische Kleinstadt, etwas zustande bringen wollen, dann müssen sie raus aus dem Haus."
Dazu kommt ein ungleichmäßig wachsender globalen Kunstmarkt. In den (noch) ölreichen Emiraten und in Ostasien wachsen die Umsätze und mit ihnen wächst die Kundschaft. In Europa steigt die Zahl potentieller Sammlerinnen und Sammler zwar auch, steht aber in keinem Verhältnis zu den Entwicklungen östlich des Urals. Die Beziehung zu ihrer Heimatstadt beschreibt die in Wien geborene, aufgewachsene und einen Großteil ihrer Zeit dort lebende Künstlerin Stefanie Moshammer deshalb so: "Der Benefit an Wien ist, wenn man hier nicht immer ist, sondern auch die Möglichkeit hat, sehr oft wegzukommen."
Und dabei kommen so viele, auch mit dem Ziel, zu bleiben! 2015 die Vienna Contemporary, 2021 die Spark Art Fair, 2022 die Heidi Horten Collection, und dieser Tage eröffnet das Wiener Aktionismus Museum im Ersten Bezirk. Mumok und Kunsthalle erwarten 2024 neue Direktionen, 2025 die Albertina. Mit der Paper Positions zieht auch ein Ableger der Berliner Positions Art Fair nach Wien, wie Katja Andreae und Kristian Jarmuschek berichten.
Aufgeschlossenheit für Neues und Internationale
Gibt es in Wien nun zu viel oder zu wenig Kunst? Zumindest scheint eine Tendenz vorzuherrschen, Ruhe zu bewahren. Die Kuratorin der Kunsthalle, Laura Amann, zitiert Gustav Mahler: “Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später.” Amann sieht die intensive Selbstorganisation nicht unbedingt als Schwäche, sondern auch als Ausdruck einer neuen Gegenwart mit mehr Chancen: Netzwerke, neue Lobbys, eine differenzierte Art, Diskurse zu führen.
Die Noch-Leitung der Wiener Kunsthalle What, How & for Whom / WHW ist ja selbst ein dreiköpfiges Kollektiv. Allerdings wird das Trio im Sommer durch die Einzelperson Michelle Cotton abgelöst. Den vermeintlichen Mangel von Sammlerinnen und Sammlern konterkariert ein an institutioneller Kulturpraxis interessiertes Publikum, das wiederum Diskurs und Debatten vorantreibt.
Während ihrer Aufzählung der jüngsten Entwicklungen in den letzten Dekaden räumt die Galeristin Ursula Krinzinger ein: "Es ist wahrscheinlich wirklich so, dass sich Wien im Moment in einer Klimax-Phase befindet." Nur impliziert dieser Höhepunkt nicht zwangsläufig eine folgende Abwärtsbewegung. Die (Kunst-)Märkte laufen derzeit ohnehin nicht überall gut. Dafür betont neben Francesca Gavin auch Krinzinger die Offenheit der Wiener Galerien gegenüber osteuropäischen Künstlerinnen und Künstlern aus Kroatien, Ungarn, Serbien, Slowenien; Andreae spricht in Zusammenhang mit der Positions von einem stärker werdenden Austausch zwischen Wien und Berlin. Am Ende scheint es eine Art Konsens zu geben, dass es die Aufgeschlossenheit für Neues und Internationales braucht, um die Wiener Kunstszene für die Zukunft zu wappnen. Selbst, wenn das Ziel erst 50 Jahre später erreicht werden sollte …