Katharina Pethke, in ihrem Dokumentarfilm "Reproduktion" erzählen Sie von Ihrer Großmutter, Ihrer Mutter und sich selbst – und von verschiedenen Weisen, Kunst und Mutterschaft unter einen Hut zu bringen. Steckt darin eine Antwort auf Linda Nochlins berühmte Frage: "Why Have There Been No Great Women Artists?"
In gewisser Weise schon, ja. In ihrem Essay von 1971 zerlegt Linda Nochlin die Aussage eines Galeristen in seine dahinter liegende Annahme: Dass Frauen nicht in der Lage seien, Großes zu leisten. Die Frage ist ja, wieso in der Kunstgeschichte so viele Frauen unerwähnt bleiben. Nochlins Schlussfolgerung ist: Die Kunstwelt wird nach wie vor von Strukturen bestimmt, die männlich geprägt sind. Und da sind wir schon mitten in der Fragestellung meines Films.
Wir reden ja über ein uraltes Machtgefälle. Ihr Film kreist um die Kunsthochschule am Lerchenfeld in Hamburg. Das Traditionsgebäude erlaubt es Ihnen, die patriarchalen Strukturen 100 Jahre zurück zu verfolgen.
Ein wunderbares Beispiel ist das Wandbild in der Aula. In der Mitte der "Ewigen Welle" (1918) von Willy von Beckerath ist der nackte männliche "Verkünder" abgebildet, der von einer Menge bewundert wird. Hinter ihm befindet sich eine verschleierte Frauengruppe. Seit über 100 Jahren werden in der Aula jedes Jahr die neuen Studierenden feierlich begrüßt - und der genius schaut überlebensgroß auf sie herab. In meinem Film frage ich mich, was zwischen dem Ideal da oben und der Wirklichkeit stattfindet. Inwiefern gilt das männliche Künstler-Ideal bis heute, und haben sich die Strukturen tatsächlich so verändert? Das alles untersuche ich exemplarisch anhand meiner eigenen Familiengeschichte.
Der Film beginnt mit der langen Einstellung eines Gebäudes hinter belaubten Bäumen, als ginge es um ein verwunschenes Schloss. Die langsamen Fahrten und Schwenks durch die historischen Räume der heutigen HFBK lassen den Ort spooky erscheinen. Spricht daraus eine ambivalente Haltung gegenüber der Kunstschule, die Ihre Biografie in mehrfacher Hinsicht geprägt hat?
Nicht nur ich habe an dieser Hochschule studiert, sondern auch meine Mutter – und meine Großmutter. Als ich dort 2012 dann Professorin wurde, habe ich mich gefühlt wie im Film "Letztes Jahr in Marienbad". Darin wandeln die Figuren wie in einem ewigen Gegenwartszustand herum, nie ist klar, in welcher Zeit sie sich gerade befinden. Die formale Strenge der Kamera in meinem Film, die Fahrten, das Elegische, das sind Anlehnungen an Resnais’ Film. Diese Form erlaubt es, Dinge Stück für Stück zu entfalten, Zusammenhänge begreifbar zu machen, Emotionales gegen Faktisches zu stellen – um die Strukturen hinter dem Biografischen zu zeigen. Die Kompositionen der Musikerin Nika Son tun ihr Übriges: Sie hat ebenfalls an der HFBK studiert - und ihren ganz eigenen Klang für das Gebäude entwickelt.
Mir hat die etwas kühl-distanzierte Erzählweise sehr gut gefallen. Sie sind selber Teil der Erzählung, spielen sich aber nicht in den Vordergrund. Gibt es Vorbilder für Ihre filmische Vorgehensweise?
Der Film könnte auch als Porträt von vier Frauen gelesen werden, die mit diesem Ort zu tun hatten, und ich bin eine von ihnen. Mir ist das Exemplarische dieser Anordnung wichtig, und sie fußt nun einmal auf einer biografischen Erfahrung. Ein Satz von John Baldessari hat mich geprägt: "Great art is clear thinking about mixed feelings". Ich gehe von einem Widerspruch aus, den ich selbst empfinde und stoße mich dann ab in die größere Fragestellung: Vom Wandbild in der Aula ausgehend finde ich weitere Figuren an und um die Hochschule: Eine idealisierte Mutter-Kind-Gruppe, die Frau als Mutter, dargestellt in der "Blüte ihres Seins" – im Gegensatz zum männlichen Künstlerideal, das nur auf sich selbst bezogen existiert. Ich frage mich, woher die Figuren kommen und seziere so nach und nach auch die Architekturgeschichte des Gebäudes. Schlussendlich gelange ich an den Ort meiner eigenen Geburt, der heute ein Kino hat und in dem ich mit den Studierenden ihre künstlerischen Strategien bespreche.
Bis zur Jahrtausendwende war dieses noch die Geburtsklinik Finkenau, von dem Reformarchitekten Fritz Schumacher als Teil des Gebäudekomplexes entworfen. Ihr Film kreist um drei, Ihre eigenen Kinder mitgezählt vier Generationen Ihrer Familie. Das würde den Titel "Reproduktion" erklären – der aber sicher mehrdeutig gemeint ist?
Definitiv. Zum einen geht es um die Reproduktion von Annahmen: Das Bild des Künstlers – ich will das bewusst einmal nicht gendern – und das Bild der Mutter sind bis heute gesellschaftlich so unhinterfragt mit Idealen besetzt, dass es unmöglich bleibt, den damit verbundenen Vorstellungen zu entsprechen. Das meine ich aber nicht nur in Bezug auf die Kunst, sondern auf Arbeit im Allgemeinen. Es fragen sich heutzutage ernsthaft Leute, ob eine Frau Bundeskanzlerin werden kann, obwohl sie Mutter ist! Für die Reproduktionsarbeit – da sind wir bei der zweiten Bedeutung – sind in der Wahrnehmung Vieler nach wie vor die Frauen zuständig. Wie oft wurde ich im beruflichen Kontext gefragt, wo meine Kinder jetzt sind? So eine Frage wird Männern einfach nicht gestellt. Die Zuschreibung "Mutter" bedeutet auch auf dem Kunstmarkt bis heute, dass eine Frau nicht mehr hundert Prozent geben kann oder einem Bild entspricht, das sich gut verkaufen lässt - ganz wunderbar nachzulesen in dem kleinen, aber feinen Buch "How Not to Exclude Artist Mothers (and other parents)" von 2022.
Im Film wird eine Skulptur von Elena Luksch-Makowsky reproduziert, damit diese wieder aufgestellt werden kann. Können Sie die Geschichte dieser Skulptur skizzieren? Und inwiefern ist dieses Werk "Frauenschicksal" für ihren Film wichtig?
Die Skulptur ist von 1912. Der Wiener Bildhauer Richard Luksch wurde kurz zuvor zum Professor nach Hamburg berufen und seine Frau Elena Luksch-Makowsky kam mit. Als erste Frau der Wiener Secession galt sie zu diesem Zeitpunkt als die bekanntere Künstlerin von beiden. Sie bekamen insgesamt drei Kinder - und sie war automatisch zuständig. Eine einzige große Arbeit hat sie noch geschaffen, das "Frauenschicksal". Es zeigt eine Frau als Mutter im Widerspruch: Während unter ihrem Rock drei Kinder sitzen, wendet sie sich sehnsuchtsvoll einem Raben zu, der ihr auf ihrer Schulter sitzt. Ihr Mann konnte mit dieser Darstellung offenbar nicht leben und hat zwei Jahre später ein Gegenbild erschaffen. Seine ungebrochen idealisierte Mutter-Kind-Gruppe steht bis heute an der Kunsthochschule und kann betrachtet werden – während es für ihre Skulptur keinerlei Lobby gab. Sie verschwand in einem Depot. Dies als ein Teil der Beweisführung für Nochlins These.
Sie kennen die Hochschule als Studentin und als Lehrende. Dazwischen hat sich viel verändert, so wurden aus Diplom- dann Bachelor- und Masterstudiengänge. Der heutige Mediencampus wird mit dem Slogan beworben: "Größtmögliche Synergieeffekte im Bereich der kreativen Arbeit". Das scheint Ihnen wenig zu behagen, in Ihrer Antrittsrede 2012 haben Sie über die "Kraft des Scheiterns in der Kunst" gesprochen…
Für mich bedeutet die Kunst immer noch, dass sie die Möglichkeit (und auch die Kraft) hat, der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen – und nicht blind ihre Werte zu reproduzieren: Wertschöpfungs-Strategien sollten nicht automatisch Teil der Ausbildung an der Kunsthochschule sein, finde ich. Das Kunststudium begreife ich als Privileg, das ein Versuchsfeld eröffnet. Es geht um eine Haltung zur Welt, die nicht gleich in eine repräsentable Arbeit münden muss, das wird aber von den Studierenden erwartet. Die Wettbewerbsfähigkeit ist in die Kunst gewandert – wie absurd. Der Kreativsektor als Wirtschaftsfaktor wächst beständig, und so kam es auch, dass die Geburtsklinik neben der Kunsthochschule nach ihrer Stilllegung zum Kunst- und Mediencampus wurde. Kreativität wird groß geschrieben - und was mit der Care-Arbeit ist, gilt mehr oder weniger als Privatsache. Der Genius in der Aula wurde übrigens vor ein paar Jahren teuer und aufwändig restauriert.
Können Sie etwas zum Zeitraum der Dreharbeiten sagen? Vor allem an Ihrer Großmutter, die in einigen Sequenzen als gesunde Seniorin zu sehen ist, dann bettlägerig wird und während der Dreharbeiten gestorben ist, lässt sich ablesen, dass über einen sehr langen Zeitraum gedreht wurde.
Das erste Interview habe ich mit meiner Großmutter 2012 aufgenommen, nur als Tonaufnahme. 2019 war meine Professur vorbei und der letzte Arbeitstag war gleichzeitig der erste Drehtag. Ich war ja nun quasi zum dritten Mal von hier weggegangen: Nach meiner Geburt, dann als Studentin und nun final als Professorin a. D.. Den Abstand brauchte ich auch, um zu drehen. Zuweilen habe ich mich wie ein Geist gefühlt, der da immer noch durch die heiligen Hallen wandert. Insgesamt haben wir fast fünf Jahre an dem Film gearbeitet. Es ging schrittweise voran: Drehen, reflektieren, sortieren, recherchieren. Zuletzt haben wir ein ganzes Jahr lang geschnitten. Der Film ist direkt zur Berlinale fertig geworden. Ein tolles Gefühl!