Die Atelieradresse steht auf den beiden handbemalten und gebrannten Bechern, die Leonard Kahlcke mit Kaffee gefüllt aus der Atelierküche bringt. Die Künstlerin Jana Euler hat sie gemacht, seine Studionachbarin. Großzügiger Altbau, die Fenster groß und tief bis zum Dielenboden, auf dem Holzspäne liegen. Der Blick auf die Straße: Bistro, Café, Bordelle. Das eine milieugerecht in Rot, es soll den Hell’s Angels gehören. Das andere hat ein aggressives Lila als Corporate Look gewählt und metallicgraue Schaufensterpuppen auf den Balkonen, die auch bei Tageslicht gruselig aussehen.
Im Frankfurter Bahnhofsviertel stehen die Füße der Wolkenkratzer im Schmutz. Gegröle von draußen, wir machen mal lieber die Fenster zu. Leonard Kahlcke fertigt hier über dem harten Pflaster feinste Schuhe an. In seinen Regalen stapeln sich Leisten seiner Kunden. Auf dem Boden liegt ein ganzer Stapel Pecari-Leder, eine südamerikanische Schweineart, es wird normalerweise für Handschuhe verwendet und kommt von einem der vielen Kürschner, die hier am Bahnhof seit den 1960er-Jahren ansässig sind.
Gerade hat er einen schweren Fall: Die Füße des Klienten sind sehr unterschiedlich breit, die Schuhspitze muss trotzdem diese ganz bestimmte Eleganz haben, die man selbst auf den vielen seiner herumliegenden Zeichnungen ganz deutlich erkennt. Die schmale Form, die mit Bedacht und präzise platzierten Nähte, die formvollendete Spitze, die ob rund, eckig oder spitz immer genau die richtigen Verhältnisse von Wölbung, Verjüngung und Winkel aufweist. Es sind Schuhe, die so in keinem einzigen Kaufhausregal stehen. Warum eigentlich nicht? Auch nicht bei Prada oder Louis Vuitton ein paar Straßen weiter, wo sie von der Stange ungefähr dasselbe kosten wie bei Leonard Kahlcke von Hand? Weil man die Eleganz da nicht so hinbekommt. Den Designern fehlt die Erfahrung mit dem Handwerk. Und umgekehrt.
"Ich bin der einzige Leistenbauer, der Design studiert hat"
"Schuster sind eben keine Gestalter. Nie gewesen, heute auch nicht. Ich bin der einzige Leistenbauer, der Design studiert hat", so Kahlcke. Er hat sich jahrelang intensiv mit der Geschichte des Herrenschuhs auseinandergesetzt. Warum sehen sie so aus, woher kommen die Codes, woher die Gestaltungselemente? Ein Wort wie "Budapester" benutzt er ganz gewiss nicht, es gibt Half Brogues und Full Brogues. Warum ein Double Strap Monk ein schwieriger Schuh ist und worauf es bei einem Loafer ankommt – nicht zu locker, klar, aber auch gut anliegend – das kann er nicht nur referieren, sondern er erzählt es immer aus der Perspektive von jemandem, der fest vorhat, einen eigenständigen Beitrag als Designer zu diesen Geschichten zu leisten.
Wie schafft man Eleganz? Es ist natürlich einerseits eine Frage des Materials, sagt er. Aber andererseits sind die Proportionen entscheidend. Ist ein Leisten perfekt, setzt er mit feinem blauen Konturenband den Verlauf der Nähte. Autodesigner machen das so. Es kann dauern, bis die Platzierung millimetergetreu gefunden ist, aber dann gibt es definitiv keine bessere.
Angefangen hat der 1975 geborene Leistenbauer als Typograf und Illustrator in der Werbung. Und auch wenn das die ersten Jobs waren – ganz am Anfang stand, wie so oft bei Künstlern, das Sprayen. Als Erstkontakt mit der Straße, mit dem Schmutz, dem Nachdenken über Proportionen, Formen und natürlich auch darüber, was richtig gute Schuhe sind. Seine Diplomarbeit machte er an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach Anfang der Nullerjahre über einen Nike-Sneaker, der klimaneutral war. Das Paar fertigte er wirklich an, lange gründliche Recherchen über Material und Logistik inklusive. In den damals florierenden Sneaker-Foren launchte er ihn unter Nike-Flagge. Aber die Welt war damals noch nicht bereit für die konsequente Umsetzung. Es war die Zeit von "No Logo" und "Die Stadt als Beute" und den Diskussionen über obdachlosenfeindliche Architektur im öffentlichen Raum. Leonard Kahlcke machte in dieser Zeit mit einer Gruppe "Kunst am Bau", ohne Auftrag.
Klare Trennung zwischen Kunst und Schuhmacherei
Am Silvesterabend von 1999 auf 2000, als die ganzen Hochhäuser mit Euro-Zeichen erleuchtet waren, fuhren sie verkleidet auf das Marriott-Hotel an der Messe, das 1976 mal kurz das höchste Haus Deutschlands war. Dachluke aufschrauben, einen Stromkasten von der Größe eines Hauses verstehen, ein paar Kabel lösen. Bis zum nächsten Tag, so lange dauerte es bis jemand etwas dagegen unternahm. So lange glühte weithin sichtbar über die Bankenstadt im Euro-Taumel auf dem Marriott Hotel nur noch das Wort "riot".
Der Zusammenhang von Graffiti und den anderen Dingen, die er macht, sagt er, werde einem immer angedichtet. Aber für ihn gibt es keinen Übergang, seit mehr als 30 Jahren. Er macht es immer noch, als einer der Ältesten, aber: "Ganz klare Trennung."
Mit einem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung ging er nach Rotterdam, weil da nie einer hinwollte und er mit der Bewerbung sehr spät dran war. Von den Versprechen in seiner Bewerbung löste er keins ein, aber er zeichnete ein Jahr lang wie besessen Schuhe. "Von den Entwürfen zehre ich noch heute," sagt er. Danach bewarb er sich in London und machte dort seinen Master, Focus auf Herrenschuhe.
Ein Beitrag zur Geschichte des Herrenschuhs
Seitdem leistet er in seinem Atelier Stück für Stück seinen "ernst gemeinten Beitrag zur traditionellen Herrenschuh-Geschichte." Seine Kunden empfängt er in einem kleinen Laden im Bankenvierteln zwischen den Hochhäusern. Die Finanzwelt ist, so naheliegend das wäre, nicht sein breitestes Publikum. Knauserig und wenig Geschmack, bedauert er. Anwälte sind da ästhetisch schon gebildeter. Aber es kommen aus allen Sphären Menschen zu ihm, oder er zu ihnen, nach Berlin zum Beispiel. "Trunk Shows" nennen das niedergelassene Spezialisten wie er. Die teuersten Schuhmacher der Welt gehen für so etwas in luxuriöse Hotelzimmer. Ihm ist das unangenehm – die Schuhe ausgebreitet auf dem Bett, in dem der Händler dann auch schläft. Er hält sich an die Maßschneider, die ihm stilistisch nahestehen. In Berlin ist das dieser Tage Maximilian Mogg in der Bleibtreustraße Charlottenburg.
Wer keinen maßgefertigten Leisten möchte, hat die "Made to order"-Option. "Made to measure" wird aus vorhandenen Designs von Kahlcke angefertig, und "bespoke" sind auf Maß gefertigte einzigartige Schuhpaare. "Mein Ziel ist, dass ich kopiert werde." Es ist auch schon vorgekommen, von einer großen traditionsreichen italienischen Modefirma. Bis seine Entwürfe Klassiker werden und in die Schuhgeschichte eingehen, wird es noch dauern, weiß Leonard Kahlcke. Lieber wäre ihm aber, dass andere Schuhmacher ihn kopieren.