"Deutschland blamiert" ("Bild"), "einfach nur peinlich" (Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP), eine "Lachnummer" ("Frankfurter Rundschau"): Das Wort "Flugscham" hat eine neue Bedeutung bekommen, als Mitte August die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ihre Reise in die Pazifik-Region nach wiederholten Pannen an ihrem Regierungsflugzeug vorzeitig abbrechen musste. Wie lebendig der Traum vom Fliegen trotz aller Diskussion um Klimaschutz ist und was für eine narzisstische Kränkung eine Störung dieser modernen Errungenschaft bedeutet – nach Baerbocks "Debakel" lag es auf einmal offen zu Tage.
Auch Tomás Saraceno weiß um die Attraktivität des Fliegens, nicht umsonst nennt er seine große Utopie "Aerocene": Der argentinische Künstler experimentiert seit vielen Jahren mit den Möglichkeiten der fossilfreien Luftfahrt und einer möglichen ökologisch verträglichen Besiedelung der Atmosphäre. In den Serpentine Galleries in London zeigt er gerade seinen neuen Film "Fly with Pacha, into the Aerocene". Es verblüfft, mit welchen Attributen das "Zeitalter der Lüfte", wie man "Aerocene" übersetzen könnte, hier beschrieben wird: als interdisziplinär, gemeinschaftlich, quelloffen und gemeinfrei. Man möchte sofort mit dabei sein.
Doch warum sickern solche Entwürfe von der Zukunft, wie wir sie seit Jahrzehnten von Architektur-Biennalen, unzähligen Panel-Diskussionen und Filmen wie "Fly with Pacha" kennen und die nicht (nur) versponnen sind, sondern im Gegenteil auch sehr vernünftig, nicht in den politischen Diskurs, wie er in Zeitungen, Wahlkämpfen und Parlamenten geführt wird? Warum dringen solche Ideen und Methoden nicht durch?
So weltfremd sich der Künstler anhört, ist er doch Praktiker
"Es hat wohl mit einem Mangel an Vorstellungskraft bei einigen Menschen zu tun", sagt Saraceno am Telefon, "dass sie an der Idee festhalten, dass es nur eine Art von Fliegen und Reisen gibt." Wie könne es sonst sein, dass Europa den herkömmlichen Luftverkehr immer weiter subventioniert, während es die Bahn vernachlässige? Der Künstler rechnet vor, welchen großen Unterschied die Wahl des Transportmittels macht, um von Berlin, wo er wohnt und arbeitet, zu seiner Ausstellung nach London zu kommen: "Mit dem Flugzeug kostet dich das 30, 40 oder 50 Euro und du bist in ein paar Stunden da. Mit dem Zug kostet es dich bis zu acht Mal so viel und es dauert elf Stunden. Wenn man denn die Anchlusszüge erreicht. Mehrmals habe ich beim Umsteigen auf der Strecke viele Stunden verloren. Dass die Bahn so schlecht abschneidet, ist eine politische Entscheidung." Dahinter stünden Interessen der fossilen Industrie. "Und nun stelle man sich mal vor, wie lange es nach London dauert mit einem Ballon, der nur durch die Luftströmung dahintreibt."
Und hier kommt die Kunst ins Spiel. Sie kann der Einbildungskraft auf die Sprünge helfen.
So weltfremd sich der Künstler manchmal anhört, ist er doch Praktiker. In seinem Heimatland führte Saraceno 2020 den ersten Personenflug mit von Sonnenwärme erzeugter heißer Luft durch. Auch wenn ein Ballon im Deutschen fährt und nicht fliegt: Mit seiner Reise in einem voll solarbetriebener Heißluftballon über einen argentinischen Salzsee brach er gleich 32 Flug-Weltrekorde, jeweils den für Höhe, Entfernung und Dauer einer Heißluftballonfahrt ohne Antrieb durch Propangas. Die drei Rekorde zählen einmal in der allgemeinen Kategorie und einmal in der Kategorie "weiblich", denn der Ballon wurde von einer Pilotin gesteuert.
Wem nutzt Technologie?
Mobilität ist das zentrale Versprechen der Moderne. Es ist eng verknüpft mit dem Versprechen auch sozialer Durchlässigkeit: dass Stände- und Klassengrenzen überwindbar sind. Ein gestörter Verkehrfluss erinnert daran, dass diese Versprechen für viele Menschen nicht wahr geworden sind, nie wahr werden. Der "Fly with Pacha"-Film zitiert Zahlen: 80 Prozent der Weltbevölkerung saß noch nie in einem Flugzeug, ein Prozent der Weltbevölkerung ist hingegen für 50 Prozent der Flugemissionen verantwortlich. Wenn Autofahrer Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen angehen, dann vielleicht auch deshalb, weil die genauso wie ein streikender Regierungsflieger ein schwer erträgliches Bild für die vorenthaltene gesellschaftliche Beweglichkeit darstellen. Nicht umsonst brüllen die Motorisierten: "Ich muss arbeiten", während sie die Aktivisten und Aktivistinnen von der Fahrbahn schleifen. Arbeit ist eines der wenigen Mittel für einen möglichen Aufstieg - so jedenfalls die Verheißung.
Es geht also beim Fliegen auch um Gerechtigkeit. "Technologie ist nicht genug", sagt Saraceno, der als Künstler wie ein Erfinder und Ingenieur arbeitet. "Die Frage muss auch lauten: Wem gehört die Technologie, wem bringt sie Vorteile?" Deshalb ist es ihm so wichtig, an Open-Source- und Public-Domain-Prinzipien festzuhalten, damit Wissen nicht hinter Patenten und Lizenzen verschwindet.
Bei dem Rekordflug über den Salinas Grandes und der Laguna de Guayatayoc in Argentinien hat der Künstler deshalb auch lokale, indigene Gruppen miteinbezogen, um gleichzeitig auch auf den Lithiumabbau in der Region aufmerksam zu machen. Denn darin zeigt sich genauso wie beim Fliegen die Problematik, wem Technik und vermeintlicher Fortschritt nutzt. Lithium wird für Fahrzeugbatterien benötigt, und obwohl Elektromobilität als Zukunft des klimafreundlichen Verkehrs steht, ist der Lithiumabbau alles andere als nachhaltig. Salzlauge wird in gewaltigen Mengen aus dem Boden gepumpt und in riesigen Becken zum Verdunsten gebracht, sodass der Grundwasserspiegel sinkt. Zusätzlich entnehmen die Minenbetreiber Süßwasser für die Reinigung ihrer Anlagen und den Verarbeitungsprozess, was den Wassermangel verschärft.
"Fly with Pacha" erzählt von dieser Problematik und wie sich die Bewohner der Region dagegen wehren. Man habe viel erreicht, sagt Saraceno, der diesen Kampf seit Jahren unterstützt, auch finanziell mit dem Verkauf seiner Kunst. Doch gibt es immer wieder Rückschläge, wie etwa der Erfolg des Rechtspopulisten Javier Milei Mitte August bei der argentinischen Vorwahl zur Präsidentschaftswahl im Oktober. Es sieht nicht so aus, als ob Kandidat Milei die Probleme der Communites, die unter dem Wassermangel leiden, lösen könnte oder wollte.
"Pessimismus ist ein extremer Luxus"
Es ist verführerisch, sich den Lauf der Geschichte als hegelianisch vorzustellen, dass also der Weltgeist nach und nach zu sich selbst kommt. Doch die Geschichte rumpelt vor sich hin, turbulent wie ein deutscher Pannenflieger. Stimmt das so jemanden wie Saraceno nicht pessimistisch?
"Aber nein", ruft der Künstler durchs Telefon. Und paraphrasiert die Kulturhistorikerin Rebecca Solnit, die kürzlich im "Guardian" schrieb: "Die Hoffnung ist eine Umarmung des Unbekannten und des Unwissbaren, eine Alternative zur Gewissheit der Optimisten und Pessimisten. Optimisten glauben, dass alles auch ohne unser Zutun in Ordnung sein wird; Pessimisten vertreten den gegenteiligen Standpunkt; beide entschuldigen sich damit für ihr Handeln." Oder besser: Nicht-Handeln.
Pessimismus sei ein Geschäftsmodell, das dazu diene, den Status quo zu erhalten, sagt Tomás Saraceno. "Pessimisten im Globalen Norden sitzen auf der Couch und warten auf den Untergang, während Menschen im Globalen Süden um ihr Überleben kämpfen. Pessimismus ist ein Privileg, ein extremer Luxus."