Über Gerhard Richter ist schon viel geschrieben worden. Für Bilder von Gerhard Richter ist auch schon viel Geld ausgegeben worden. Zahlreiche seiner Arbeiten sind Teil deutscher Museumssammlungen. Erst kürzlich durfte sich die Berliner Nationalgalerie über eine Dauerleihgabe von 100 Richter-Gemälden freuen. Leihgabe auch deshalb, weil das Geld zum Kaufen nicht reicht.
Über die Malerin Vija Celmins (anders als bei Richter ist hier die Berufsbezeichnung noch nötig) ist noch nicht derart viel geschrieben worden. Ihre Bilder sind auch nicht so teuer, ein Richter erzielt bei Auktionen einen bis zu sieben mal höheren Preis. Und nur ein einziges deutsches Museum, das Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt, besitzt ein Gemälde von ihr. Celmins ist eine artists’ artist: eine Künstlerin, die zwar Kolleginnen und Kollegen bekannt ist, aber nicht dem großen Publikum. Eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle ändert das nun. Noch bis zum 27. August zeigt "Double Vision" die Werke von Vija Celmins neben Arbeiten von Gerhard Richter in einer großen Doppelschau.
Die Gemeinsamkeiten in ihren Werken sind verblüffend. Beide malten ab den 1960er-Jahren, Celmins in Venice, Kalifornien, und Richter in Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen. In völliger Unwissenheit voneinander schufen sie Bilder mit enormen formalen und inhaltlichen Ähnlichkeiten. Diese Parallelen wurden zwar in der Fachliteratur hier und da kurz angemerkt, aber noch keine Ausstellung hat sie jemals anschaulich gezeigt, wie die Kuratorin Brigitte Kölle erklärt. Die Gemeinsamkeiten werden schon anhand der Sujets deutlich, nach der auch die einzelnen Ausstellungsteile organisiert sind. Hervorzuheben sind hier: die Alltagsobjekte, die "Disaster", die Seestücke und die Farbe Grau.
Sie malt Lampen, er den Küchenstuhl
Während die 1938 in Riga geborene Celmins also in Kalifornien begann, Lampen und Herdplatten abzumalen, hatte Richter in Düsseldorf dieselbe Idee. Auch er widmete sich in Abgrenzung zum Abstrakten Expressionismus und der Pop Art den Dingen aus seiner direkten Umgebung. Im Gegensatz zu Celmins nutzte Richter schon von Anfang an Fotografien als Vorlagen. So auch für den "Küchenstuhl" (1965), dessen Motiv in der für Richter typischen Manier unscharf verwischt ist. Direkt daneben hängt Celmins‘ "Lamp #1" (1964), deren Schirme beinahe wie quicklebendig aufgerichtet sind, sodass die beiden Glühbirnen die Betrachtenden direkt anzublicken scheinen.
In diesem ersten Raum wird bereits deutlich, welche Farbe den Ton für die Schau angibt: Grau. Sowohl Celmins als auch Richter versuchten in ihrer Malerei, die eigene Person möglichst zurückzustellen. Nicht nur ohne bestimmtes Ego, sondern auch ohne bestimmtes Ziel, ohne bestimmte Gestik und eben auch ohne ohne bestimmte Farbe sollten ihre Gemälde auskommen, so der in Notizbüchern formulierte Wunsch. Im Gegensatz zu den späteren abstrakten Bildern Richters, die in der Schau aber nicht vertreten sind, hat sich Celmins die Skepsis gegenüber allem Bunten während ihres gesamten künstlerischen Schaffens bewahrt.
Im nächsten Abschnitt widmet sich die Schau den sogenannten "Disaster"-Werken. Der Beginn dieser Reihe fiel bei Celmins 1966 damit zusammen, dass sie wie Richter anfing, Bildmaterial aus Büchern oder Zeitschriften als Vorlagen zu verwenden. Für die hier gezeigten Werke waren das Schwarz-Weiß-Fotografien aus Zeitungen von militärischen Explosionen, Kampfjets und Bombern. Während Celmins’ Flugzeug-Bilder "German Plane" und "Flying Fortress" (beide 1966) wie unter einer grauen Dunstglocke zu schweben scheinen, das Hakenkreuz aber klar zu erkennen, sind in Richters "Schärzler" (1964) das Flugzeug und der Hintergrund gestisch verwischt, doch auch hier ist die Schrift deutlich zu lesen.
Arbeit am Verlust des Selbst
Obwohl Richter wie Celmins davon berichteten, dass das Abmalen militärischer Motive für sie mit der Verarbeitung traumatischer Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg verknüpft war, gehört auch diese Phase bei beiden zur Arbeit am Verlust des Selbst. Darauf weist auch eine Notiz Richters aus den 1960er-Jahren hin: "Wenn ich eine Fotografie abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet. Ich weiß nicht, was ich tue."
Richter und Celmins haben beide Fluchterfahrungen gemacht. Mit ihren Eltern und der Schwester musste sich Vija Celmins im Alter von fünf Jahren 1944 aus ihrer lettischen Geburtsstadt Riga über Deutschland in den USA in Sicherheit bringen. Gerhard Richter war 29 Jahre alt, als er mit seiner Frau aus der ehemaligen DDR nach Westdeutschland floh. Sicherlich sind das Erfahrungen, die die Malerei beider beeinflussten. Aber was für Richter wie Celmins im Vordergrund steht, ist nicht die eigene Subjektivität, sondern allgemeingültigere Fragen nach der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Je mehr Bilder der Ausstellung man betrachtet, desto klarer wird: Die Art und Weise, wie Richter und Celmins diese Themen behandeln, könnten unterschiedlicher nicht sein. Am deutlichsten machen das die Seestücke.
Es war das protestreiche Jahr 1968 als Celmins in Kalifornien damit begann, das Meer zu zeichnen. Man mag es kaum glauben, aber zeitgleich wandte sich auch Richter in Düsseldorf dem Seestück zu. Wie seine unbekannte Kollegin nutzte er Fotografien als Vorlagen.
Am spannendsten sind die Unterschiede
Von da an sollte das Meer über eine längere Zeit Celmins’ primäres Bildmotiv werden. Für einige Jahre hörte sie ganz auf zu malen und widmete sich nur der Zeichnung. Am rechten unteren Bildrand beginnend, arbeitete sie sich über Wochen und Monate auf dem Papier weiter vor, und die Ergebnisse zeugen von dieser extremen Geduld. In den 1980er-Jahren fing sie an, das Meer auch in Öl zu malen. Aus dieser Phase ist die Serie "A Painting in Six Parts" zu sehen, die die Malerin von 1986 bis 2016 anfertigte. Alle sechs Bilder sind nach derselben Fotovorlage entstanden, aber in leicht unterschiedlicher Farbigkeit ausgeführt. Damit evozieren sie verschiedene Stimmungen oder Tageszeiten.
An Celmins' Meeresbildern beeindruckt, wie sie auf kleiner Fläche die Weite und Tiefe des Wassers bannt. Dabei wirken die Strukturen der Wellen nicht lichtdurchlässig und reflektierend, sondern weisen eine eigene Festigkeit und Materialität von neben- und übereinanderliegenden Formen und Schichten auf. In einem Gespräch mit dem Kritiker Robert Storr erklärte Celmins, dass das Meer für sie kein Motiv des Erhabenen sei, sie nicht über seine Symbolik nachdenke oder mit ihm etwas Philosophisches ausdrücken wolle. Es ginge ihr stattdessen um die Materialität, um das Machen und um die Präsenz der Oberfläche. Und das sieht, ja spürt man.
An den Wänden neben Celmins’ sechsteiliger Reihe hängen Richters großformatige Ölgemälde "Seestück (See-See)" von 1970 und das ein Jahr zuvor entstandene "Seestück (bewölkt)". Am spannendsten ist wahrscheinlich – und hier leisten Kölle und ihr Team Pionierarbeit –, dass die Schau durch die Gegenüberstellung auch die Unterschiede zwischen Richter und Celmins deutlich macht. Trotz der unübersehbaren inhaltlichen und formalen Ähnlichkeiten.
Dem Himmel so nah, aber auch so fern
Richters Bilder scheinen zu rufen: "Tritt zurück, schau mich im Ganzen an", während Celmins’ Werke einen näher heranwinken und den Blick von links nach rechts, von oben nach unten auf die Details lenken. So meint man statt Meereswellen zuweilen Berglandschaften oder Gesteinsschichten zu erkennen. Im nächsten Moment achtet man nur noch auf die körnige Materialität der Bleistiftschraffur auf dem Papier. Während Richters Gemälde punktuell wirken, eröffnen Celmins’ Bilder - eher mit einem linearen Zeitdenken vergleichbar - stets neue Wahrnehmungsweisen von Ausschnitten.
Vielleicht könnte man sagen, dass Celmins uns näher an die Erde heran- und Richter weiter von ihr wegführt. Stattdessen bringt er uns dem Himmel näher. Auch wenn das etwas dramatisch klingen mag, könnte da etwas dran sein. Denn tatsächlich nennt Richter, anders als Celmins, beispielsweise den Romantiker Caspar David Friedrich als kunsthistorischen Referenzpunkt für seine Landschaftsbilder. Der zielte nach seinen eigenen Worten auf eine "Erhebung des Geistes" und einen "religiösen Aufschwung".
Celmins bringt uns mit ihren Bildern vom Meer und vom Nachthimmel, von Flugzeugen, Alltagsobjekten, Wüstenlandschaften und Spinnennetzen nahe zur Materialität der Erde und der Natur – zuweilen zu nah, so dass es piepst. Richter dagegen hält uns auf Abstand zu ihr. Was die Schau letztlich auf bislang einzigartige Weise zeigt: Der Punkt, an dem Richter und Celmins jeweils am weitesten von sich selbst entfernt sind, ist der, an dem die beiden sich am nächsten kommen.