Einer der Höhepunkte der Documenta 9 war 1992 eine Toilette. Hinter dem Fridericianum befand sich das gar nicht so stille Örtchen mit langen Schlangen davor, in das das Künstlerpaar Ilya und Emilia Kabakov die Replik eines typisch sowjetischen Zweiraum-Apartments gebaut hatte. Kabakov beschrieb, wie es ihn und seine Landsleute automatisch gruselte, wenn sie an das wenig appetitliche Innere dieser Klohäuschen dachten, die an Bushaltestellen und Bahnhöfen seiner Heimat zum Alltag gehörten. Durch das ausgetauschte Interieur spielten er und seine Frau mit diesen Erwartungen und durchkreuzten sie mit der Idee von Heimeligkeit und privatem Rückzug, der jedoch nicht frei von staatlicher Ideologie war.
Kunst konnte hier Zusammenhänge verschieben und gleichzeitig Irritation und Geborgenheit befördern - so, wie es in allen "totalen Installationen" der Kabakovs der Fall war. Das kindliche Bedürfnis, sich phanstasievolle Verstecke mit ganz eigenen Regeln zu schaffen, traf auf die Reflexion von politischen Utopien und die Notwendigkeit des Rückzugs in autoritären Regimen.
Der 1933 in Dnepropetrovsk in der heutigen Ukraine geborene Ilya Kabakov wird oft als einer der einflussreichsten Künstler aus der ehemaligen Sowjetunion beschrieben und zählt zu den Pionieren der Konzeptkunst. Obwohl er ein technisch brillanter Maler war, wandte er sich schnell von der Abbildung der Wirklichkeit ab. Ohne falsche Bescheidenheit behauptete er einmal, er habe so viele malerische Ideen, allein von einem einzigen seiner Einfälle könne man ein Leben lang zehren, indem man ihn schön meisterhaft ausformuliere. Aber nicht Kabakov. Malerei interessiert ihn kaum um ihrer selbst willen.
Realismus auf niedrigstem Niveau
Das war schon damals so, Anfang der 1950er-Jahre, als der Absolvent der Moskauer Kunstakademie mit Kinderbuchillustrationen seine Karriere begann. Stalin war noch am Leben, die Doktrinen für eine sowjetische Staatskunst festgezurrt. "Mich hat die heimische Kunstproduktion interessiert, aber nur in dem Moment, in dem sie vom Sockel stürzt und sich in Müll verwandelt", sagt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Künstler. Mit großer Distanz ging er ans Werk, verwandelte sich selbst in die Figur "sowjetischer Maler", um den staatlich verordneten Realismus zu wiederholen – allerdings "auf niedrigstem Niveau", wie er meint.
Er zerstörte in seinen freien Arbeiten das Pathos mit surrealistischen Text-Bild-Kombinationen und Alltagsgegenständen, die er an der Leinwand anbrachte. Oder indem er Gemälde zu Elementen größer Installationen degradierte.
1987 ging Ilya Kabakov in den Westen und wurde 2000 US-amerikanischer Staatsbürger. Gemeinsam mit seiner Frau Emilia berichtet er seither vor allem in Installationen vom Leben in der untergegangenen Sowjetunion, das Erzählerische trat weiter in den Vordergrund. Die Malerei ist bei diesem Vorhaben nur ein Baustein unter vielen, Kabakov bezeichnete sich selbst als Synkretist, der verschiedene Denkschulen und Ideen zu etwas Neuem kombinieren wollte. Utopien und deren Scheitern an der Wirklichkeit interessierten ihn genauso wie die Übersetzung von Alltäglichem in die entrückten Räume der Kunst.
Spenden statt Blumen
Die Kabakovs haben mit ihrer Kunst so ziemlich alles erreicht, was der westliche "Betrieb" an Ruhm und Ehre bereit hält. Ihre Werke waren im MoMA und im Whitney Museum of American Art zu sehen, 1993 vertraten sie Russland auf der Venedig-Biennale, 2022 bekamen sie den österreichischen Kokoschka-Preis verliehen.
Kurz vor seinem 90. Geburtstag ist Ilya Kabakov nun gestorben, "friedlich im Schlaf", wie seine Galerie Thaddaeus Ropac mitteilte. Auf Facebook gab die Ilya and Emilia Kabakov Foundation bekannt, dass es in einigen Wochen eine öffentliche Trauerfeier geben soll. Statt Blumen wünscht sich die Familie Spenden an das Projekt "Ship Of Tolerance", bei dem das Künstlerpaar ein Schiff mit Segeln aus bemalten Leinwänden als schwimmendes Kulturzentrum durch verschiedene Länder schickt.