Pulad Mohammadi, Sie haben Volkswirtschaftslehre studiert – also das, was man landläufig etwas "Vernünftiges" nennen würde. Warum dann noch Kunst in Florenz und Düsseldorf?
Da haben in mir eine gewisse Naivität und ein Idealismus über das Pragmatische gesiegt. Das Pragmatische habe ich über Jahre versucht durchzuziehen. Ich habe tatsächlich meine 14 Semester durchgedrückt, nachdem ich eigentlich schon nach vier Semestern wusste, dass das Wirtschaftsstudium mich umbringt und ich gar nicht in dem Bereich arbeiten will. Aber ich habe versucht, die Nischen zu finden, die Kreativität zulassen. Die gibt es tatsächlich, aber auch die haben enge Hierarchien und Grenzen. Danach hatte ich jedenfalls das Gefühl, ich muss mich daraus befreien. Und mein Leben lang dachte ich, die Kunst sei der Ort dafür.
Und sie war es dann doch nicht?
Naja, nachdem ich dann wiederum über zehn Jahre an der Kunstakademie war und ein Stück ihrer Realität kennenlernen durfte, habe ich den Text "Strategien gegen die Kunst" geschrieben, der diese Frage verneint. Nein, Kunst ist nicht der Ort für die Freiheit, sondern es ist eigentlich eine andere Wirtschaft, wenn man so will.
Gab es Erlebnisse, an denen Sie das festmachen?
Ich würde eher der Akademie generell vorwerfen, dass sie eine Blase aufrechterhält. Sie gewährt den Künstlern und Studierenden einen Schutz, der ihnen in der freien Wirtschaft oder in der Außenwelt abhanden kommt. Das ist mir dann deutlich aufgefallen, als ich aus der Akademie raus bin.
Aber ist diese geschützte Blase nicht wichtig, um erst einmal eine künstlerische Handschrift zu entwickeln, ohne sofort auf Vermarktbarkeit zu schauen?
Das stimmt einerseits. Aber ich habe dann in der Praxis gemerkt, wie sich schon in der Akademie wirtschaftlich orientiert wird. Man sieht ja, was Erfolg hat da draußen und was nicht, und viele Studierende orientieren sich daran. Oder wie es einer meiner Professoren gesagt hat: Man soll eine Formel für sich entwickeln, die dann durch die nächsten 20 Jahre des Künstlerlebens trägt.
Das wirtschaftliche Kunstsystem wirkt also schon in die Akademien hinein? Das spräche ja gegen die Blasen-Theorie.
Ich würde sagen, es ist eine komplexe Wechselwirkung. Klar wirkt das hinein und beeinflusst die Antizipation mancher Studenten. Aber andere tangiert es wiederum auch gar nicht. Die ziehen ihre Ideen einfach nur durch. Und dann wundern sie sich später, dass es keinen interessiert, was sie machen.
Sie schreiben, dass es keinen Sektor gibt, in dem so viel Nachwuchs für so wenig Nachfrage ausgebildet wird wie in der Kunst. Spricht das nicht für einen gewissen Idealismus, trotz schlechter Berufschancen Künstler oder Künstlerin sein zu wollen?
Jeder weiß irgendwo im Hinterkopf, dass er vermutlich kein monetäres Glück erleben wird, wenn er sich für diese Karriere entscheidet. Das wusste ich auch und das war in Ordnung damals. Darum geht es auch nicht. Der Idealismus bezieht sich vielmehr darauf, dass man tatsächlich die Freiheit hat, sich so auszudrücken, wie man will, und dann damit auch wahrgenommen wird. Aber es gibt nun mal später Dinge, die dem entgegenstehen. Wenn ich von der Blase spreche, meine ich auch, dass Studenten in der Akademie Ateliers zur Verfügung gestellt werden, für die sie nicht zahlen. Und dass sie Stipendien bekommen, die später wieder außer Reichweite rücken, weil man auf eine riesige Konkurrenz von anderen Idealisten trifft. Dann merkt man: Es kann nicht jeder so repräsentiert werden, wie er sich das wünscht.
Ist das wirklich die Erwartung, dass Künstlerinnen und Künstler diesen "Akademie-Standard" automatisch aufrechterhalten? Man bekommt eher das Gefühl, dass viele dazu bereit sind, unter sehr prekäre Bedingungen zu arbeiten.
Dieser Idealismus ist ja ein Lebenselixier. Wenn sie nicht daran glauben, dass sie eine gewisse Bedeutung haben, obwohl sie bedeutungslos sind, dann können sie gar nicht das durchziehen, was sie tun. Die unermessliche Kraft und Arbeitszeit, um an einer Sache zu arbeiten, die vielleicht ziemlich aussichtslos ist. Die monatelange Mühe für Bilder und Werke, ohne zu wissen, ob sie überhaupt wahrgenommen oder ausgestellt werden – und im Grunde ist nach einer Vernissage die Frucht der Arbeit dann auch schon erloschen. Die Kunst ist eine Mythenwirtschaft, so verstehe ich sie. Und dadurch schafft sie es, junge Leute immer wieder dafür zu begeistern und das System aufrecht zu erhalten. Mich beschäftigt die Frage, welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen es hätte, wenn keiner mehr in die Kunst ginge. Diese Perspektive basiert auf dem ökonomischen Konzept der Opportunitätskosten.
Das müssen Sie den Nicht-Volkswirtschaftlerinnen erklären.
Das ist die Differenz der Kosten, die dadurch entsteht, dass eine Sache getan wird und eine andere nicht. Das heißt, man würde die Kosten einer Maßnahme nicht nur danach kalkulieren, was sie tatsächlich gekostet hat, sondern auch dadurch, was verloren gegangen ist, was man sonst hätte tun können. Das ist die Opportunität. Was wäre, wenn diese ganzen kreativen Menschen, die immer wieder mit diesem Idealismus in die Kunst strömen, zum Beispiel in die Wirtschaft gegangen wären? Oder in eine andere Art der gesellschaftlichen Interaktion? Das ist ein riesiges kreatives Potenzial, das verloren geht für die Gesellschaft. Ich sehe da einen Verlust, weil die Kreativsten der Gesellschaft für etwas arbeiten, was letztlich nur relativ wenigen nützt.
Ich kenne diesen Gedanken eher als konservatives Argument, mit dem man Investitionen in die Kunst diskreditieren will. Nach dem Motto: Wie viele Kinderkrankenhäuser hätte man jetzt für dieses Werk im öffentlichen Raum fördern können … Ist es nicht eine Stärke der Kunst, dass sie diesen messbaren Nutzen nicht erbringen muss?
Es ist sogar das Totschlagargument der Kunst. Man muss sich überhaupt nicht rechtfertigen für das, was man tut. Und das gibt den Künstlern eine Narrenfreiheit. Vor allem denjenigen, die an der Kunstakademie sind. Die sind völlig frei, zu tun, was sie wollen. Je nutzloser, desto künstlerischer. Dabei könnte die Kunst eine vitale Rolle für die Gesellschaft spielen, wenn sie nah an der Perzeption der Menschen dran wäre, also wirklich teilnehmen würde – und nicht nur auf bestimmte Ausstellungsräume und eine bestimmte Klientel reduziert wäre. Dann könnte sie der Gesellschaft etwas anbieten, was Alternativen darstellt, ein anderes Bewusstsein von Dingen, die Möglichkeit, anders zu sein.
Während der Corona-Lockdowns haben Sie in ihrem Umfeld eine große Ernüchterung bei Künstlerinnen und Künstlern gespürt, weil ihre Arbeit nicht relevant schien. Geht das nicht eher gegen die Prioritäten der Politik als gegen die Kunst selbst?
Ich sehe die Enttäuschung in mehrerer Hinsicht: Einmal gegenüber der Politik, aber auch gegenüber der restlichen Gesellschaft, weil sie die Politik nicht dazu gedrängt hat, sich anders zu verhalten. Die Prioritäten waren andere: Die Gesellschaft hat beispielsweise dafür gestritten, dass Friseure wieder aufmachen. Und gegenüber der Kunst gibt es auch eine Enttäuschung. Der Glaube daran, dass sie eine vitale Bedeutung hat, wurde erschüttert. Daraus entstand dann der Wunsch, "Art matters" in die Welt hinaus zu schreien. Nach dem Motto: Wir sind doch wichtig, Leute! Was für mich eine Diskrepanz zwischen der Selbstpräsentation und der Realität gezeigt hat.
Viele Kunstschaffende und Institutionen haben Wege gefunden, trotz Lockdown ein Publikum zu erreichen, sei es online oder per Brief oder im öffentlichen Raum. Das ist nicht, was Sie mit Wirken in der Gesellschaft meinen?
Das verstehe ich eher als Aktionen aus der Not heraus. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass irgendeine dieser Initiativen tatsächlich das kreative Potenzial der Künstler dafür eingesetzt hätte, in dieser schwierigen Situation einen Impact zu haben.
Wie hätte der denn aussehen können?
Das ist sehr hypothetisch, weil die Kunst gar nicht genug in politische Vorgänge eingebunden ist, als dass sie irgendetwas hätten tun können. Es ist ja genau das Problem, dass Künstler außerhalb in ihrem eigenen Raum stehen. Deshalb sage ich, dass sie aktiv in die Welt hinausgehen und versuchen müssten, mehr Projekte in der Öffentlichkeit zu realisieren. Und das in Zusammenarbeit mit den Städten, Kommunen, Kulturämtern.
Dabei suchen die Kunst und ihre Institutionen doch gerade nach Wegen, wie sie sich öffnen und politisch positionieren kann. Ich denke an Themen wie Klimakrise, Kolonialismus oder Identitätspolitik. Das kommt Ihrer Meinung nach nicht an?
Diese Themen werden "verkunstet". Dadurch, dass sie eben im Raum der Kunst stattfinden, bleiben sie dem Kunst-Diskurs verhaftet. Ich sehe aber nicht, dass sie den breiten Diskurs in der Öffentlichkeit erreichen, sondern diejenigen, die sich ohnehin mit Kunst beschäftigen. Meiner Ansicht nach sind etwa die Aktivisten der letzten Generation die wahren Künstlerinnen und Künstler unserer Zeit, obwohl sie gar nicht als solche auftreten. Doch sie erfüllen alles, was ich mir von einer sozialen Kunst erwarte: sie schaffen Bewusstsein für ein relevantes Thema inmitten öffentlicher Räume. Ihre Performances sind kreativ und kollektiv. Sie setzen ihr Thema in immer neue Kontexte, sorgen für Irritationen bei deren Wahrnehmung und stellen das Wertesystem in Frage: Was ist wichtiger - Auto fahren oder Umweltschutz, ein Monet oder das Überleben der Menschheit? In gewisser Weise agieren also die relevantesten Künstler außerhalb der Kunst und brauchen diese Rollenzuschreibung nicht, während die Künstler in der Kunstwelt gezwungen sind, eine Rolle zu spielen und das Skript der Kunstgeschichte fortzuführen.
In diesem Beispiel verschränkt sich das Performative mit der politischen Realität. Sie schreiben aber auch, dass Kunst für sie immer ein Puffer und ein Ausweg war, um mit der Realität fertig zu werden. Kann das nicht für das Publikum auch so sein?
Es kommt drauf an, was die Leute davon tatsächlich mitnehmen. Ich persönlich glaube nicht, dass museale Ausstellungen, selbst wenn sie von Massen gesehen werden, tatsächlich eine Auswirkung auf die einzelnen Besucher haben. Jede Netflix-Serie hat mehr Macht über sie.
Ich frage mich, ob Sie eigentlich eher das kritisieren, was man den "Kunstbetrieb" nennt, als die Kunst selbst. Die meisten Kunstschaffenden haben mit dem Glamour der Kunstwelt ziemlich wenig zu tun.
Ja, stimmt. Ich will auch nicht diejenigen verurteilen, die wirklich Basisarbeit leisten. Aber sie sind trotzdem mit dem, was sie tun, dem künstlerischen Kanon unterstellt. Solange Sie als Künstler Kunst machen, wird sie trotzdem die Kunstgeschichte richten, und die liegt nicht bei ihnen. Daraus gibt es kein Entrinnen. Sie sind trotzdem im Betrieb gefangen, auch wenn sie eine Außenseiterrolle darin einnehmen. Sie sind im Grunde Verschleißmaterial. Damit ein paar wenige zu Ausstellungsobjekten der Kunst werden können, muss es eine Masse an Gescheiterten geben.
Was ist der Schluss daraus? Wenn alle aufhören Kunst zu machen, wird die Gesellschaft ja auch nicht kreativer …
Es geht darum, die Kreativität in andere Kanäle zu lenken. Das wirkt erstmal unglaublich utopisch, und das ist es auch. Ich gebe es zu, es ist so utopisch wie das Gedankengebäude von Joseph Beuys ...
… der ja nun äußerst verstrickt in Akademien, Politik und den "Betrieb" war …
Ja, und er ist meiner Meinung nach durch seine Prominenz in dem Betrieb letztlich gescheitert, weil er sein Denkmal in den Museen gefunden hat. Beuys wusste natürlich, wenn er diese Rolle spielt, hat er einen gewissen politischen Impact und generiert Aufmerksamkeit für das, was er eigentlich vorhat.
Aber zurück zu Ihrer Utopie.
Wenn es nicht diese krasse Unterscheidung zwischen Kunst, Künstlern und dem Rest der Welt gäbe, könnten diese exzellenten Menschen in jedem Bereich des Alltäglichen ihre Kreativität einbringen. Ich glaube, dass ein Künstler auch Programmierer werden und dort einen Unterschied machen kann. Vielleicht ist das abgedroschen, aber wir müssten den Kunstbegriff erweitern.
Passiert das nicht seit tausenden von Jahren immer wieder?
Ich habe das Gefühl, dass der Begriff bei Beuys schon weiter war als er jetzt wieder ist. Wir haben sogar eher Schritte zurück gemacht. Es werden andere Dinge als Kunst wahrgenommen, die damals vielleicht noch nicht Kunst waren, das stimmt. Aber ich glaube, dass wir vor allem die Frage "Was ist ein Künstler?" nochmal durchdenken müssten. Wo ist die Unterscheidung? Und warum gibt es die Unterscheidung, wird sie überhaupt gebraucht? Und vor allem: Was macht ein Künstler besser? Was kann er einbringen? Die Entfaltung des eigentlich Kreativen müsste viel mehr eine Rolle bei der Kunstvermittlung spielen als eine bestimmte Kunstgeschichte, die quasi nur eine Selbstreproduktion der Kunst ist. Aus diesem Hamsterrad müsste man heraustreten.
Welche Konsequenzen haben Sie eigentlich selbst gezogen? Malen Sie noch?
Die Frage behandle ich auch in meinem Buch und bin noch nicht ganz zu einem Ergebnis gekommen. Ich sehe, wie wichtig es ist, künstlerisches Vermögen zu vermitteln. Das würde bedeuten, dass ich Kunstlehrer werden könnte, was ich sehr schön finde. Für die meisten Künstler, mit denen ich studiert habe, war das immer Plan B oder C, wenn sie scheitern. Und eigentlich sollte das ein Plan A sein. Natürlich möchte ich gern weiterhin malen. Ich vermisse die Leinwand und mein Material. Aber ich muss auch reinen Gewissens damit sein, was ich mit dem Ergebnis unterstütze. Wenn ich einen Weg finde, diese technischen Fähigkeiten so einzusetzen, dass sie einen Platz in der Mitte der Gesellschaft finden und nicht in einem Sammler-Bunker, dann werde ich das auch tun. Denn ich bin, obwohl das mit Verzicht verbunden ist, nicht bereit, mich an Sammler zu verkaufen. Und wenn Gagosian anrufen würde, dann würde ich gar nicht rangehen.