Grandiose Schauplätze – wer, der Filme macht, würde sie verachten? Man muss ja nicht gleich in falschem Respekt davor verharren. Charlie Chaplin erzählte gern die Geschichte, wie ihm sein Freund Douglas Fairbanks, der frühe Actionstar, stolz die Ritterburg-Kulisse für seinen neuen Robin-Hood-Film zeigte. Da habe Chaplin nur auf das riesige Tor gezeigt und gesagt: "Das wäre ein schöner Anfang für einen meiner Filme. Jemand lässt die gewaltige Zugbrücke herunter und holt dann die Milchflasche rein."
Wim Wenders‘ 3D-Dokumentarfilm "Anselm" hat einen ähnlich charmanten Anfang, und man kann Cannes nur gratulieren, dass es seine haushohe Leinwand im Lumière-Palast dafür bereitgestellt hat. Aus der Vogel- (heute sagt man: Drohnen-)Perspektive blickt man in eine riesige Atelierhalle, in der gut und gerne zwei Ikea-Läden Platz hätten. Anselm Kiefer produziert und lagert hier Kunst in gewaltigen Dimensionen.
Lässig schubst der Künstler fast im Vorbeigehen ein auf Rollen montiertes Werk an seinen zugewiesenen Platz und setzt sich dann auf ein klappriges Fahrrad. Die Kamera begleitet ihn nun fahrend und auf Augenhöhe, sicher einen halben Kilometer entlang an endlosen Regalreihen mit Werken von teils monumentaler Größe. Dann hält der Künstler punktgenau, um zielsicher ein kleines Foto aus einer Kiste zu nehmen.
Die Abenteuerspielplätze ihrer Kindheit waren die Ruinen eines Krieges
Wenn später ganze private Fotoalben des Künstlers durchgeblättert werden, schließlich mit digitaler Hilfe der Künstler als Seiltänzer zwischen Trümmerdeutschland und Engelshimmel balanciert, ist schnell klar: Wenders und Kiefer, beide Jahrgang 45, haben etwas gemeinsam: Die Abenteuerspielplätze ihrer Kindheit waren die Ruinen eines Krieges, den andere zu verantworten hatten. Deren Schweigen wiederum schuf ein Vakuum, das geradezu einlud, sich eigene Gedanken über ein Element der deutschen Kunst zu machen, das brach lag, wenn es nicht gar mit einem Tabu belegt war: das Pathos.
Zu den Wenigen, die Kiefer sofort verstanden, zählte Joseph Beuys, dem er eine Bewerbung schrieb. In einer Spielszene sieht man Daniel Kiefer, der seinem Vater verblüffend ähnelt, einen VW-Käfer mit prallvollem Dachgepäckträger gen Düsseldorf kutschieren. Kiefer als Kind wird in anderen Szenen von Anton Wenders gespielt.
Die kurzen Spielszenen eröffnen eine Ebene der Naivität, die man angesichts der philosophischen Aufladungen des Werkes nicht unbedingt erwartet – aber durchaus anrührend finden kann. Anselm Kiefer selbst kommentiert seine Kunst mit einnehmend gebrochener Stimme, rezitiert Paul Celan und erzählt von einem glücklosen Versuch, Martin Heidegger ein Wort zu seinem Wirken in der NS-Zeit abzuringen.
Die Verrisse des Anfangs
Historische Fernsehberichte, im 3D-Raum abgespielt auf alten Röhrenapparaten, erinnern an die Zeit, als sich vor allem die deutsche Kulturkritik mit Kiefers Interesse an deutschen Mythen schwertat. Heute ist kaum noch vorstellbar, wie gnadenlos sein Beitrag auf der Venedig-Biennale 1980 verrissen wurde.
Werken wie "Deutschlands Geisteshelden und Wege der Weltweisheit" wurde jede historische Distanz abgesprochen. Wenders lässt in seinen unkommentierten Montagen diese historische Kritik mit der heutigen fast ungeteilten Würdigung durch die internationalen Kunstinstitute kontrastieren.
Anderseits gab es natürlich früher auch schon differenziertere Stimmen. Zwischentöne allerdings sind in einem Künstlerdokumentarfilm, der ohne Expertenkommentare auskommt, schwer vermittelbar. Was in der Laufzeit von 93 Minuten hingegen noch zu kurz kommt, sind Werkaufnahmen – dabei ist das, was man sieht, durchaus spektakulär – etwa Kiefers Arbeit mit dem Flammenwerfer als Malwerkzeug.
Weniger ist auch bei Kiefer manchmal mehr
Wie schon in seinem Tanztheaterfilm "Pina" nutzt Wenders die 3D-Technik sehr effektvoll, um Kiefers Werke im Raum zu inszenieren. Anderseits nimmt er sich auch selten die nötige Zeit, einzelne Arbeiten wirklich wirken zu lassen. Ein Übermaß an spätromantischer, fast wagnerianischer Filmmusik umgibt die Kunst von Anfang an. Für sich genommen ist sie ein Talentbeweis des jungen Komponisten Leonard Küßner, aber meist ist sie einfach nur zuviel.
Ganz zu schweigen von dem auf den ganzen Kinoraum abzielenden Klangdesign, von Vogelstimmen bis zu einer diffusen "Atmo", die offenbar einzulösen angetreten ist, was der komplette Filmtitel verspricht: "Anselm – Das Rauschen der Zeit". Auch bei einem Anselm Kiefer ist weniger eben doch mitunter mehr. In jedem Fall beweist Wenders mit der neuesten Filmtechnik – 3D in 6K-Auflösung – dass das Kino den derzeit grassierenden virtuellen Kunstausstellungen noch immer überlegen ist.