In den Maya-Gemeinschaften auf der Yucatán-Halbinsel in Mexico kursiert die Geschichte über ein lebendiges Seil. Das aus Agavenfasern gedrehte Tau ist wie eine Nabelschnur, die die Menschen untereinander und gleichzeitig mit der Erde verbindet. Zerschnitten und zerstückelt von europäischen Kolonialisten blutet das Seil jedoch aus.
Diese Legende ist seit Ende April im Neubau der Spore Initiative in Berlin-Neukölln zu sehen und zu hören. Illustriert von der Künstlerin Cecilia Moo und von einem Angehörigen der Maya in die Videokamera erzählt, wird sie in einem von drei Ausstellungsräumen gleich im Eingangsbereich des multifunktionalen Gebäudes präsentiert.
Wie ein Tier hängt hier ebenfalls eine textile Skulptur des Künstlers Rafiki Sánchez. Sie ist das Ergebnis eines intuitiven Webprozesses, ein "Weben aus dem Inneren" wie Sánchez es selbst nennt. Sein aus festen Strängen zusammengewirktes, organisches Gebilde ließe sich als Versuch lesen, das lebendige Seil neu zu verknoten, zu reparieren und der grausamen Geschichte zu einem besseren Ende zu verhelfen.
Mit der Kunst gegen die Ausbeutung
Im übertragenden Sinne könnte das auch als das Anliegen von Spore betrachtet werden. Die Initiative ist kein Ausstellungshaus im vertrauten Sinne, sondern versteht sich als Ort, an dem indigenes Wissen erlebbar vermittelt und biokulturelle Vielfalt erprobt werden soll - vor allem durch ein pädagogisches Workshop Angebot, das unter der Woche stattfindet. Für "Laufpublikum" ist das Haus mit großzügigem Garten nur am Wochenende geöffnet.
Eine gleichberechtigte Vernetzung mit außereuropäischen Kulturen und marginalisierten Communities ist der Ausgangspunkt von Spore. Im Umgang mit den Ausstellungsexponaten sieht das so aus, dass die meisten Arbeiten, ob dokumentarisch oder künstlerisch, entlohnte Auftragswerke aus Yucatán sind und nach ihrer Präsentation auch wieder dorthin zurückgehen.
Die Halbinsel ist sozusagen der Gründungsort von Spore. Hier wurden Partnerschaften mit Kleinbäuerinnen, Illustratoren, Dichterinnen, Handwerkern und Bildungskooperativen geknüpft. Wie eine tatsächliche Spore im biologischen Sinne, etwa ein Samenkorn, sollen die durch die Initiative angeregten Projekte dort und hier keimen und alternative Lebensformen beleben: Ansätze, die sich neoliberalen und kapitalistischen Ausbeutungsprinzipien widersetzen.
Kulturförderung als Lebensförderung
Die Kunst spielt dabei eine zentrale Rolle, ist aber nur eine unter vielen Praktiken. Anders als bei aktivistischen Projekten, die die Kunstwelt erobern, könnte man hier eher davon sprechen, dass sich der Aktivismus der Kunst bedient. Er setzt ihr ästhetisches Potential ein, um Unsichtbares sichtbar zu machen. Oder ganz pragmatisch: Um Kulturförderung als Lebensförderung zu nutzen. Wie etwa beim Erhalt der Melipona-Bienen, einem wilden Bienenvolk in Yucatán, das seit Jahrhunderten mit Maya-Imkerinnen und -Imkern zusammenlebt. Ariel Guzik widmet ihnen eine Installation in der Ausstellung "U Juum Baalam Raab – Das Summen der Wächterbienen" im zweiten Stockwerk des Hauses.
Im Stadtbild der Neuköllner Herrmannstraße wirkt der Neubau von Spore, der von den AFF Architekten im Klinker-Stil entworfen wurde, sehr repräsentativ. Spätestens mit der Perspektive auf diese imposante Präsenz der Behausung stellt sich die Frage, wer eigentlich hinter der Initiative steckt - und ob es vielleicht doch einen Haken gibt, der sich im Ausstellungskontext und in der Begegnung mit dem diversen Team von Spore nicht zeigt.
Geldgeber ist die Schöpflin-Stiftung aus Lörrach, die hinter der Förderung des Gesamtprojekts steht. Sie besteht aus den Erben der Unternehmerfamilie Schöpflin, die 1930 den ersten erfolgreichen Versandhandel in Deutschland etablierten. In den 1990er-Jahren verkaufte die Familie an Quelle. Das Geld für die Spore Initiative kommt ganz explizit aus dem "Family Office" von Hans Schöpflin und ist ein klassisches Vermächtnis der deutschen Wirtschaftswunderjahre.
Narben und Knoten der wiederbelebten Nabelschnur
Dieser Hintergrund trübt das Unterfangen nicht. Viel und überschüssiges Geld ist immer das Ergebnis kapitalistischer Strukturen, die nie ohne Ausbeutung funktionieren. Es ist umso wichtiger, dass das Geld wieder an die Stellen zurückfließt, an denen strukturell etwas verändert werden kann. Vertiefende Recherchen wo und wie das Kapital fließt, bleibt selbstverständlich wichtig, um Greenwashing und anderes moralisches Freikaufen zu entlarven. Das ist Aufgabe des Investigativ-Journalismus, der übrigens bald direkt neben die Spore Initiative zieht – auch mit Schöpflins Unterstützung. Das "Haus für gemeinnützigen Journalismus", ein Zwillingsbau zum Kunsthaus, ist schon eine vorangeschrittene Baustelle.
Spore ist nach Aussage der Beteiligten ein "Projekt im Werden", und es dürfte spannend sein, wie sich dieser Ort entwickelt, weil es nichts Vergleichbares in Berlin gibt und keine institutionelle Kategorie unserer westlichen Infrastruktur wirklich greift. Anzunehmen, dass das lebendige Seil tatsächlich wieder geflickt werden kann, birgt die Gefahr, zu idealistisch zu sein. Vielleicht sollte es gerade um die Narben und Knoten der wiederbelebten Nabelschnur gehen, um - im Sinne Donna Haraways - "unruhig zu bleiben".