Eigentlich war nie vorgesehen, dass die Leute sich in seiner Kunst verewigen, und doch gilt Rudolf Stingel als Mitmachkünstler. Es begann vor sieben Jahren, da hatte er auf der Venedig-Biennale einen Raum mit Dämmplatten verkleidet. In deren Alubeschichtung ritze er ein paar Linien. Die Besucher fühlten sich eingeladen, es ihm gleich zu tun. Stingel ließ es zu.
Spuren – das ist schon ein Thema des in New York lebenden Künstlers. Das Kaputte spielt er gegen Erhabenheit aus, das Selbstgemachte gegen lästigen Geniekult; bereits 1989 schrieb er eine Anleitung, wie man sich einen „Stingel“ selbst basteln kann. Nun ist der echte Stingel in der Berliner Nationalgalerie zu sehen: „Rudolf Stingel Live“ – seine bislang größte Einzelausstellung in Deutschland. Der 54-Jährige ist wenig bekannt hierzulande, trotz einer gefeierten Werkschau im New Yorker Whitney Museum 2007, trotz absurder Auktionsrekorde (fast zwei Millionen Dollar für eine Styroporarbeit!) und einer Ausstellung vor sechs Jahren im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die der jetzige Nationalgalerie-Chef Udo Kittelmann verantwortete.
Stingel hat in Berlin die komplette Halle des Mies-van-der-Rohe-Baus mit einem Teppich auslegen lassen. Die modernistische Ikone bekommt so etwas Wohnliches, zumal auch ein Kronleuchter an der Decke hängt. Der Bodenbelag zitiert Muster eines indischen Agra-Teppichs aus dem 19. Jahrhundert. Der Künstler hat die Ornamente vergrößert, als wolle er den Kontrast zur strengen Architektur verschärfen.
Diese Konfrontation mit Idealen der Moderne wirkt schon etwas abgegriffen. Doch es kann gut sein, dass es hier um etwas anderes geht: um die Abwesenheit von Zuhause, um das Heimliche, das Unheimliche und Heimatlosigkeit. Im Untergeschoss dieses Hauses, das auch der Idee von Nation gilt, präsentiert der gebürtige Südtiroler großformatige Gebirgsansichten in Grisaille. Drei Vorlagen für die fotorealistischen Gemälde stammen von Stingels Vater: Der hatte die Fotos nach der Rückkehr aus dem Krieg aufgenommen, vielleicht, weil er sich ihrer ewigen Schönheit vergewissern wollte. Stingel hat auch die Kratzer reproduziert, die nun die Würde der dargestellten Bergwelt kontrastieren.
Vorlage für das vierte Bild war eine Fotografie des Malers Ernst Ludwig Kirchner, der sich nach dem Ersten Weltkrieg auf die Stafelalp bei Davos zurückzog, ganz in der Nähe beging er 1938 Selbstmord. Auf dem Stingel-Bild sind die Fingerabdrücke zu sehen, die Kirchner auf dem Negativ hinterließ und die hier, in Öl abgebildet, gespenstisch wirken – und nebenbei Fragen nach der Authentizität der Medien Malerei und Fotografie auf den Kopf stellen.
Es ist trotz des lärmverheißenden Ausstellungstitels und der Monumentalität der Teppichinstallation ein stiller und nachdenklicher Auftritt Stingels in Berlin. Er wird seinerseits Spuren bei den Besuchern hinterlassen, die durch Schuhabdrücke an der Kunst mitarbeiteten.
Neue Nationalgalerie Berlin, bis 24. Mai. Mehr Informationen unter www.rudolfstingel.org