40 Jahre Galerie Eigen + Art

"Auch Gnadenlosigkeit ist ein Teil unseres Erfolges"

Vor 40 Jahren eröffnete Gerd Harry Lybke die erste Ausstellung in seiner Wohnung in Leipzig – heute gehört die Galerie Eigen + Art zu den wichtigsten in Deutschland. Kerstin Wahala und Elke Hannemann sind seit über 30 Jahren als Chefinnen in der zweiten Reihe dabei

Die Galerie Eigen + Art wurde noch in der DDR von Judy Lybke gegründet und gehört heute zu den erfolgreichsten Deutschlands. Was ist ihr Erfolgsgeheimnis?

Kerstin Wahala: Die Furchtlosigkeit. Das Feuer. Auch Gnadenlosigkeit ist ein Teil unseres Erfolges. Jedem, der reinkommt, wird Kunst vermittelt. Und unsere Dreierkombination ist stark.

Elke Hannemann: Wir sind zuverlässig, schnell, zäh.

Vor genau 40 Jahren, am 10. April 1983, eröffnete Judy Lybke seine erste Ausstellung in seiner Wohnung in Leipzig am Körnerplatz. Waren Sie damals schon unter den Besucherinnen?

KW: Ich bin erst im September 1983 nach Leipzig gezogen und habe die ersten Ausstellungen bei Judy 1985 besucht. Die Galerie war da schon in eigenen Räumen in der Fritz-Austel-Straße. Ich wohnte direkt daneben. Es war ganz klar, dass man aller vier Wochen freitags in die Eigen + Art ging. Judy war in der Szene eine Persönlichkeit. Ich habe ihn damals vor allem als Schauspieler wahrgenommen. Er hat lange am Poetischen Theater gespielt.

In seiner Wohnung hat Judy Lybke den Gästen die Tür noch nackt geöffnet, um gegenüber der Stasi die angebliche Privatveranstaltung zu unterstreichen. Haben Sie ihn auch in diesem Kostüm erlebt?

KW: Ich habe Judy noch nie nackt gesehen!

EH: Ich kenne auch nur die Geschichte. Ich bin erst später zum Studium nach Leipzig gekommen und hatte in dieser Zeit mit zeitgenössischer Kunst weniger Berührungen. Ich habe Judy von Ferne wahrgenommen und in den späten 1980er-Jahren auf der Straße kennengelernt.

Frau Wahala, bei Ihnen war das Interesse für Kunst schon da. Sie haben im Nebenfach Kunstgeschichte studiert und 1990 die Galerie Stöck Art gegründet. Wie kam es dazu?

KW: Nach dem Studium habe ich an der Uni gearbeitet. Nach dem 9. November 1989 verschwand meine Professorin und meine Studierenden waren auch weg. Ich habe noch in der DDR eine Galerie des Kulturbundes geleitet und dort Fotos der Leipziger Montagsdemonstrationen ausgestellt. Es wurde schnell klar, dass die Strukturen dieser Galerien nicht ins neue System passen. Ich habe dann quasi eine feindliche Übernahme gemacht, ein Haus besetzt, Räume renoviert, Kunst ausgestellt und mit einer grandiosen Party eröffnet. Ich war 1990 auch schon in Westdeutschland unterwegs. Mit einer Mappe unterm Arm habe ich unter anderem Grafiken an Professoren in Heidelberg verkauft.

Wie wurden Sie die erste Mitarbeiterin von Eigen + Art? Haben Sie sich offiziell beworben?

KW: Nein, die Idee, dass ich bei ihm einsteigen könnte, hatte Judy. Wir kannten uns nur flüchtig. Judy hat mich ein Jahr lang immer wieder gefragt, ob ich bei ihm arbeite. Und ich habe ein Jahr lang "Nein!" gesagt.

Wollte er die Konkurrenz in Leipzig ausschalten?

KW: Nein. Das hat ihn nicht interessiert. Es ging darum zu gucken, wen er für seinen Weg braucht. Judy ist ein intuitiver Typ. Er hat einen unglaublichen Blick für Menschen und hat mein Potenzial gesehen. Irgendwann habe ich schließlich "Ja!" gesagt. Das war am 8. Juli 1990, an dem Tag, als Deutschland Fußballweltmeister wurde. Da war Elke dabei. Seit dem 1. September 1990 arbeite ich für die Galerie.

Das heißt, Sie beide kannten sich schon länger?

EH: Ja, wir sind ein Studienjahr und haben beide im Hauptfach Kulturwissenschaften studiert.

KW: Die Grundlagen des Marxismus-Leninismus hatten wir zusammen!

EH: Wir haben bis 1988 studiert. Auch ich blieb an der Universität und habe im Fachbereich DDR-Literatur unterrichtet. Tim Sommer, der heutige Chefredakteur der "Art", war einer meiner Studenten. Das war eine wahnsinnig aufregend Zeit. Mit Poetik-Vorlesungen unter anderem von Christa Wolf, Volker Braun, Christoph Hein und Demonstrationen auf der Straße. Es passierte so viel und parallel. Das war keine Zeit, um wissenschaftlich zu arbeiten. Ab 1990 war ich dann oft in der Galerie und als ihr beiden auf die ersten Messen gefahren seid, habe ich Aufsicht gemacht. 1991 suchte ich Arbeit und Judy sagte: "Du musst ins Ausland!" Judy hat Dinge schon immer schnell auf den Weg gebracht, rief bei einem Galeristen in Wien an  und eine Woche später begann ich bei Hans Knoll zu arbeiten. Ich habe bei Künstlern gewohnt und auf diesem Weg viel gelernt. Nach einem Jahr brauchte Judy jemanden in Leipzig, denn Kerstin war inzwischen mit der Galerie in Berlin. Dass wir in Leipzig bleiben war immer klar. Die Stadt ist Teil der Geschichte und viele unserer Künstler leben hier.

Was war 1990 die Vision der Galerie Eigen + Art?

KW: Die Vision von Judy war: Uns gehört die Welt! Wir hatten genauso viel Freude daran, die Welt zu erobern, wie die Kunst zu zeigen. Es war wirklich eher so: "Cool, wir fahren auf eine Kunstmesse, ok, dann zeigen wir auch Kunst!"

EH: Wir waren alle Ende 20, waren mit dem Studium fertig und hätten so oder so überlegen müssen, wie es beruflich weitergeht. Es bot sich das Abenteuer, Judy hatte den richtigen Riecher. Wir haben nicht bewusst gesagt: Wir gehen diesen Weg mit! Wir sind ihn einfach mit losgelaufen!

Einen Kunstmarkt im westlichen Sinne gab es in der DDR nicht. Gab es weitere Menschen, die Sie am Anfang unterstützt haben und erklärt haben, wie alles funktioniert?

KW: Wir haben vor allem mit den Augen und den Ohren gelernt. Und Judy ist schnell. Der kommt morgens rein und sprudelt vor Ideen: Wir kaufen jetzt einen Computer! Wir brauchen eine E-Mail-Adresse! Noch 1990 haben wir in Leipzig Günther Uecker und Marcel Odenbach ausgestellt. Zwei sehr bedeutende Künstler, die überhaupt nicht abgehoben waren. Die haben uns viel erzählt und waren gut in Galerien eingebunden. Die Mitarbeiterinnen aus deren Galerien, tatsächlich immer Frauen, kamen zu den Eröffnungen. Denen haben wir Fragen gestellt. Den ersten Anrufbeantworter bekamen wir von einer Mitarbeiterin von Walter Storms geschenkt!

EH: Wir sind nach der Wende losgelaufen und haben einfach gemacht! Auch das haben wir von Judy gelernt. Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 1990er-Jahre mit Götz Lehmann in einem kleinen Auto voller schnell gedruckter Kataloge von Jörg Herold nach Berlin gefahren bin. Die wurden vor Ort verteilt und verschickt.

KW: Wir sind 1990 mit einem Kredit von Arend Oetker gestartet. Das waren 50.000 DM. Judy hatte in Köln ein Konto eröffnet. Ich bekam den ersten Kontoauszug und dachte: Das reicht fürs ganze Leben! Dann kam die Transportrechnung vom Hintransport der Werke von Uecker. 5.000 DM. Und ich dachte: Da ist jetzt schon ein Zehntel weg! Dann hieß es, wir bräuchten eine Versicherung. Da haben wir gesagt: "Nee! Das Geld sparen wir!" Stattdessen gab es einen Schlafplan. Wir haben sechs Wochen in der Galerie geschlafen. Mit Unterstützung der Künstler Jörg Herold, Reiner Görß und Uwe Kowski.

Wie sind die anderen Galerien aus dem Westen Ihnen begegnet? Gab es Stigmatisierungen?

KW: Am Anfang wurden wir sehr wollwollend und sehr nett empfangen. Und dann merkten die: Ok, die sind echt krass. Die kommen immer wieder! Wenn du bleibst, dann bist du irgendwann Konkurrenz. Kollegen aus Bayern haben uns einmal als die Kollegen aus der SBZ bezeichnet! Die Sowjetische Besatzungszone gibt es schon seit 1949 nicht mehr.

Sie sind heute Senior Partner und Senior Director. Wie sind Ihre Rolle definiert? Was sind Ihre Aufgaben?

KW: Bei mir liegt die Verantwortung für das Galeriemanagement, die Finanzen und natürlich die Betreuung von Künstlerinnen und Künstlern. Seit wir 1990 kommerziell gestartet sind, gab es keinen Monat, wo Mitarbeitende kein Geld bekommen haben. Ich hatte bis vor kurzem die komplette Mitarbeiterführung. Natürlich beraten Judy und ich uns über Gehälter und Gehaltserhöhungen. Inzwischen treffen wir gemeinsam mit Elke in Leipzig die Personalentscheidungen.

EH: Meine Position hat sich in den Jahren mehr und mehr entwickelt. Ich habe den Standort Leipzig über zehn Jahre allein betreut, heute bin ich Direktorin mit vier Mitarbeiterinnen. Und ich betreue unter anderem Ricarda Roggan, Annelies Strba, David Schnell, Kristina Schuldt, Martin Groß und Maja Behrmann.

KW: Ich betreue Tim Eitel, Stefan Guggisberg, Uwe Kowski, Olaf Nicolai, Melora Kuhn, Kai Schiemenz und den Nachlass von Karl Heinz Adler. Und ich bin Stiftungsgründerin und Vorsitzende des Vorstandes der Grafikstiftung Neo Rauch in Ascherleben.

Sie sind in Ascherleben geboren. War die Grafikstiftung Ihre Idee?

KW: Wenn man Neo fragt, sagt er, es war seine Idee. Es ist immer die Idee des Künstlers! Daran ist man als Künstlerbetreuerin gewöhnt. Aber ja, ich habe einen Anteil daran, dass Neo Rauch der Stadt jeweils ein Exemplar der Auflagen seines bisherigen grafisches Werkes überlässt und diese dort ausgestellt werden.

Löst das Verkaufen von Kunst bei Ihnen Glückgefühle aus?

EH: Das Hochgefühl kommt, wenn es einen überraschenden Verkauf gibt. Aber auch wenn man Dinge voraussieht, wenn man etwa schon im Atelier eines Künstlers die Idee hat, dass eine bestimmte  Arbeit in eine entsprechende Sammlung passen könnte und das am Ende auch passiert. Das ist auch bei Ausstellungsprojekten so. Ich liebe es, wenn man eine Idee von etwas hat und ich dann erlebe, dass diese Vorstellungen funktionieren und sich umsetzen lassen.

KW: Ich habe auch die größten Glücksgefühle, wenn ich Leute zusammen bringe, sei es für einen Kauf, eine Ausstellung oder ein anderes Projekt. Wenn das klappt, bin ich stolz auf mich. Das wichtigste ist, Bindeglied zu sein. Klar, wenn Du eine hochpreisige Arbeit verkaufst, bist du danach nicht obercool. Aber ich verkaufe genauso gern eine Arbeit für 800 Euro. Ich verkaufe gern. Verkäufe sind auch immer Teamarbeit. Da darf man nicht eitel sein. Wir haben ein gutes Sales-Team. Es gibt Sammler, die können besser mit Elke, besser mit Judy oder besser mit mir. Und umgedreht. Das hat auch mit Chemie zu tun.

EH: Wir sind immer sehr gut vorbereitet. Wir wissen, welche Mitarbeiterin zu welchem Werk am meisten sagen kann. Verkaufen ist Intuition und Erfahrung, aber auch einfach Arbeit.  

KW: Und dennoch muss es eine Leichtigkeit bleiben.

Haben Sie je überlegt, eine eigene Galerie zu gründen?

KW: Ja.

Wann zuletzt?

KW: 1996 vor der Geburt meines Sohnes. Da wollte ich was Eigenes in Richtung Druckgrafik machen.

Haben Sie diese Idee Judy Lybke gegenüber offen angesprochen?

KW: Natürlich nicht! In dem Moment, wo man zu Judy sagt: "Ich überlege, das und das zu machen …", dann verlässt du den Raum und machst das ab sofort!

EH: Ich habe meine Tochter 1995 bekommen und war von Beginn an alleinerziehend. Für mich war nicht vorstellbar, Schulden aufzunehmen, ein Business zu gründen und ein Kind zu erziehen. Später hat sich die Galerie verändert, wir zogen 2005 in Leipzig auf die Spinnerei, ich bekam Mitarbeiterinnen und mein Gestaltungsspielraum wurde größer. Dinge, die man sich von einer eigenen Galerie erhofft hatte, waren dann auch bei Eigen + Art möglich.

KW: Wir kommen aus der DDR und haben keine reichen Eltern. Auch Judy nicht. Judy hat 20 Stunden am Tag gearbeitet. Da habe ich mich schon gefragt: Habe ich diesen Biss? Wie wähle ich Künstler aus? Kann ich mich gegen Künstler entscheiden, obwohl ich sie total nett finde? Habe ich die Kraft, wenn ich vorne rausgeschmissen werde, hinten wieder reinzukommen? Ich wurde 1998 Mutter eines Sohnes, war auch alleinerziehend und damit war für mich klar, dass ich in der Galerie bleibe.

EH: Es war uns beiden möglich, Kinder zu bekommen und in der Galerie zu bleiben. Das wäre für Judy nie ein Kündigungsgrund gewesen. Wir hatten ein Kind und wollten Karriere. Wobei wir nicht Karriere dazu gesagt haben. Wir wollten berufstätig und damit erfolgreich sein.

Wie haben Sie Familie und Arbeit unter einen Hut bekommen?

EH: Es war vereinbar, aber mit großem Aufwand. Wir haben viel gearbeitet. Meine Tochter lag einige Male mit Fieber in der Galerie.

KW: Unsere Kinder sind da gut durchgekommen, aber das ist nicht selbstverständlich. Unsere Entbehrungen sind heute kein Maßstab mehr. Junge Menschen sind nicht bereit, dieses Leben zu führen, weil sie es nicht erstrebenswert finden. Da muss ich gestehen, da fehlt es mir manchmal an Toleranz. Aber ich setze mich damit aktiv auseinander.

EH: Es ist die Herausforderung in jeder Firma zu schauen, dass man der nächsten Generation an Mitarbeiterinnen gerecht wird. Manche Einstellungen kann man leichter teilen, andere eben nicht.

Führen Frauen anders?

KW: Auf jeden Fall! Ich glaube, dass Frauen anders Kritik üben.

EH: Wir sind strukturierter und resilienter.

KW: Wir führen sehr transparent. Wir treffen uns jedem Tag im Zoom und besprechen die wichtigsten Punkte.

Die Galerie vertritt derzeit 36 Positionen, 15 davon sind weiblich gelesene Künstlerinnen. Haben Sie für dieses fast ausgeglichene Geschlechterverhältnis gesorgt?

KW: Das wir mehr und mehr Frauen im Programm hatten, war eine strategische Entscheidung von Judy. Er bekommt Trends mit, bevor sie da sind. Heute würdest du keine Messe mehr ohne weibliche Position machen. Wir haben in den 1990er-Jahren Messen mit fünf männlichen Künstlern gemacht und es nicht gemerkt. Das mussten wir auch lernen.

EH: Das ist typisch für unsere Generation: Wir fanden die Künstlerinnen gut und haben sie gezeigt! Das Geschlecht hat keine Rolle gespielt.

KW: Das Bewusstsein für die Sichtbarkeit von Frauen ist bei uns mit der Zeit gewachsen. Wir kommen aus einer Gesellschaftsform, wo die Frau scheinbar emanzipiert war. Wir sind zwei intelligente Frauen. Wir sind international unterwegs und lernen viel. Wir müssen uns im Alltag mit Gendern, KI und NFTs beschäftigen. Dadurch bleibt das Gehirn in Bewegung und du schlägst Brücken zur Geschichte und deiner Heimat. Das sind oft emotionale Momente. Ich habe gerade in Rostock die Ausstellung "abgegeben" gesehen, zur Wochenkrippe in der DDR. Ich war nicht mal in der Krippe und auch nicht im Kindergarten, und trotzdem kamen mir die Tränen.

Elternschaft im Kunstbetrieb ist ein großes Thema. Es gibt immer wieder Geschichten von Galerien, die die Zusammenarbeit mit Künstlerinnen beenden, wenn ein Kind unterwegs ist. Wie wird das bei Eigen + Art gehandhabt?

KW: Als unsere Künstlerinnen und Künstler Kinder bekamen, war sehr schnell klar, dass wir die Geburten bei der Ausstellungsplanung berücksichtigen und keinen Druck machen. So wie wir es auch für uns gemacht haben. Es gibt Künstlerinnen, die brauchen drei Jahre, ehe sie wieder kommen, andere drei Wochen. Unabhängig davon haben wir irgendwann entschieden, dass wir bewusst auch Künstlerinnen und Künstler im Programm haben, die weniger machen oder mal eine lange Pause haben. Lange Zeit haben wir an alle die gleichen Maßstäbe angesetzt. Das geht aber bei Männern wie bei Frauen nicht. Alle können Schaffenskrisen haben, bewusst Pausen machen oder werden Eltern. Das wollen wir als Galerie berücksichtigen. Es ist unsere Verantwortung, positive wie negative Veränderungen wahrzunehmen, zu begleiten und die Künstlerinnen und Künstler zu schützen.

Das Team von Eigen + Art ist überwiegend weiblich. Bewerben sich hauptsächlich Frauen, oder war es Ihre bewusste Entscheidung, Frauen zu fördern?

KW: Auch das war zu Beginn eine strategische Entscheidung von Judy. Da hat er ganz klar für sein Wohlbefinden und das Wohlbefinden des Unternehmens entschieden. Stelle starke Frauen ein, mit denen läuft es!

Was zeichnet die Zusammenarbeit in einem überwiegend weiblichen Team aus?  

KW: Frauen sind konfliktfähiger. Judy hat das immer runter gespielt, von wegen: Ich möchte auf den Messen keinen anderen Mann am Stand stehen haben. Aber die Frage ist auch: Wie lange bleibt ein Mann in der Assistentenposition? Dann wurden wir mehr und jetzt haben wir neben Judy fünf weitere Männer im Team. Das ist ganz angenehm. Die Streitkultur ist eine andere.

Inwiefern?

KW: Männer sind pragmatischer. Wenn ich auf der Palme bin, dann haben die Kollegen die Palme gar nicht gesehen. Sie sind gelassener.

Haben Sie innerhalb des Kunstbetriebes unangenehme Begegnungen aufgrund Ihres Geschlechts erlebt, Übergriffe sprachlicher oder anderer Art?

KW: Ja, die gab es. Als mir solche Dinge passiert sind, habe ich sie noch als ziemlich normal hingenommen. Es war spannend über die Jahre zu merken, dass man das nicht hinnehmen muss und auch die nächste Generation mit ihrer Sensibilität dafür anders ernst nehmen muss.

EH: Der Kunstbetrieb benennt diese gesellschaftlichen Themen zum Teil eher als andere Bereiche. Deshalb glaubt man immer, dass er auch der fortschrittlichere ist. Das ist nicht so. Auch mein Bewusstsein dafür hat sich über die Jahre geschärft, gerade auch durch Praktikantinnen und jüngere Mitarbeiterinnen. Da zeige ich inzwischen stärker Grenzen auf, auch gegenüber Besuchenden der Galerie.

KW: Mit Sammlerinnen und Sammlern und Künstlerinnen und Künstlern versuchen wir harte Konflikte zu vermeiden. Das hat den Nachteil, dass ich es privat auch oft so mache, weil ich es mir antrainiert habe.

Sind Galeristinnen untereinander gut vernetzt?

KW: Da steht uns zum Teil die Konkurrenz im Weg. Ich bin mit einigen Galeristinnen enger befreundet. Man sieht sich regelmäßig auf Messen und tauscht sich natürlich auch sonst aus. Wir sind ja auch eine Kaderschmiede. Viele Frauen der Kunstwelt waren mal bei uns Praktikantinnen. Zum Beispiel war Susanne Pfeffer meine Praktikantin und dann bleibt man sich vertraut.

Die Umsätze der Galerie sind 2021 und 2022 deutlich eingebrochen. Sind die Folgen der Pandemie noch immer spürbar?

KW: Es gab keinen Gewinn, weil wir es uns geleistet haben, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu behalten. Das Team wurde im Home Office getragen, auch die, die Berufe haben, die man nicht am Schreibtisch machen kann, etwa unser Aufbauteam. Wir waren von März bis Juli 2020 in Kurzarbeit. Zu Beginn der Pandemie haben wir sogar jemanden eingestellt, statt zu entlassen, weil wir ihm zum 1. April 2020 fest zugesagt hatten. Wir sagen immer: "Wer bei uns anfängt, dem geben wir auch Versprechen für die Zukunft!" Die Geschäfte sind noch nicht wieder so, wie sie vor Corona waren. Dazu kommt, dass wir unser Programm über fünf Jahre gestalten. Da hast du auch unabhängig von Corona ein Jahr, in dem du viel verdienst, weil die Künstler, die du zeigst, hochpreisig sind. Dann gibt es zwei Jahre mit ganz jungen Künstlern, wo du genauso hart arbeitetest, genauso viel einpackst, genauso viel transportierst, aber viel weniger verdienst. Wir investieren in die Zukunft und das müssen wir querfinanzieren. Das ist unternehmerisches Handeln: Wenn eine Galerie größer werden soll, muss man das finanzieren können.   

EH: Vieles hat sich nach der Pandemie stark verändert. Die steigenden Kosten spüren wir im Galeriealltag deutlich. Die Transportkosten sind beispielsweise immens gestiegen.

KW: Das hat auch Vorteile. Wir lernen jetzt wieder, einiges selber zu machen. Für eine defekte Glühbirne brauchen wir keinen Handwerker. Wir haben auch Lehrgeld bezahlt und kürzlich sehr viel mehr als geplant für einen Transport gezahlt. In Hongkong hatten wir für die Messe jetzt wiederum so knapp kalkuliert, dass wir am Ende nicht genügend Kunst mithatten. Aber natürlich merken wir die Inflation. Es ist seit über einem Jahr Krieg in der Ukraine. Firmen haben die Pandemie nicht überlebt. Es gibt ein anderes Kaufverhalten.

Deutschlandfunk Kultur berichtete im November, dass Galerien und Kunstmessen in der Pandemie gefördert worden, ohne den Bedarf ausreichend zu prüfen. Eigen + Art hat 80.000 Euro bekommen. Zu Recht?

KW: Wir sind eine GmbH & Co. KG. Man kann unsere Geschäftsberichte online einsehen. Wer rechnen kann, sieht diese Summe in Relation zu anderen Förderungen.

EH: Die Veröffentlichung war einen Tag vor der Kölner Messe. Die Sammlerinnen und Sammler, die ja auch alle Unternehmen haben, sagten alle: Wissen die eigentlich was es heißt, eine Firma mit über 20 Mitarbeitern durchzubringen? Für die war die Kritik kein Thema. Zu dem Berichten hat der Bundesverband deutscher Galerien und  Kunsthändler sich erst kürzlich kritisch geäußert.

Nervt es Sie, dass die Galerie derart auf das Narrativ und die Person Judy Lybke reduziert wird? Ich fand nur eine Dokumentation von Nicola Graef und Kira Poh, wo Sie, Kerstin Wahala, in der ersten Minute gezeigt und als Partnerin der Galerie noch vor Lybke interviewt werden.

KW: Es gab schon viele, die uns interviewt und dann in der finalen Fassung rausgeschnitten haben. Judy gibt gerade in diesen Tagen viele Interviews. Dann geht es den Fragenden um Judy als Fährmann des Schiffes, um seine Zeit als Aktmodell an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und ums unsterblich werden. Das ist sicher auch der Trägheit der Presse geschuldet. Natürlich kann man die Frage an Kritikerinnen und Kritiker und Journalistinnen und Journalisten adressieren: Warum hinterfragt ihr nicht, wie ein Unternehmen mit 25 Angestellten funktioniert?

EH: Wir sind nicht naiv. Das ist wie beim Fußball: Da steht auch der Trainer im Mittelpunkt.

KW: Die Frage, die ich mir stellen kann, ist: Warum bin ich 33 Jahre lang in der zweiten Position geblieben? Wenn ich da bleibe, dann werde ich auch erst als zweite gesehen. Aber natürlich wurmt mich das manchmal.
 


Ist Eigen + Art auch Ihre Galerie?

KW: Nein. Das ist mein Leben, aber nicht meine Galerie. Die Galerie gehört Judy.

EH: Ich habe über mein halbes Leben mit der Galerie verbracht. Dennoch wäre es anmaßend zu sagen, dass sie meine ist. Am Ende trägt Judy das geschäftliche Risiko.
Sind Sie mit Judy Lybke befreundet?

KW: Nein. Wenn man 33 Jahre zusammenarbeitet, kann man nicht befreundet sein. Das funktioniert nicht. Elke und ich sind Freundinnen. Das war zwischendurch auch schwierig. Wir haben ein Coaching gemacht, wo wir gelernt haben, Privates und Job zu trennen.

EH: Wir sind keine Freude, aber wir haben ein besonderes Verhältnis. Natürlich haben wir uns unter sehr besonderen Umständen kennengelernt und nicht klassisch beworben. Wir haben zentrale Momente unserer Biografie miteinander verbracht. Man muss sich das vorstellen: Am 3. Oktober 1990 haben wir beide mit Judy und Uwe Kowski in meiner Wohnung mit Ofenheizung und Außenklo die Nacht der Wiedervereinigung erlebt. Wir sind eine Generation und wir sind gemeinsam einen Berufsweg gegangen, der allein aus der zeitgeschichtlichen Dimension einmalig ist.

KW: Meine Verbindung zu Judy ist eher familiär. Wir verbringen einen Großteil unseres Lebens miteinander. Wir arbeiten nicht nine to five, unsere Öffnungszeiten sind Dienstag bis Samstag, wir sind viel auf Messen weltweit unterwegs. Wir kennen seine Mutter, die uns bis vor kurzem immer noch fragte, ob Judy uns auch ordentlich bezahlt. Dieses Familiäre verbindet uns nicht nur mit Judy, sondern auch mit den Künstlerinnen und Künstlern, die lange im Programm sind. Auch da kennen wir die Eltern und gingen später mit zu Beerdigungen. Judy und ich streiten uns wie ein altes Ehepaar. Und wir brauchen eine Weile, bis wir uns wieder vertragen können. Aber wir respektieren uns und stellen uns nicht in Frage. Loyalität zeichnet uns alle aus. Wenn einer von uns, ob nun Elke, Judy oder ich, in Bulgarien an der Tankstelle stehen würde und das Geld wäre alle, dann würde der andere oder die andere sofort losfahren.

Hätte es Judy Lybke auch ohne Sie geschafft, Eigen + Art zu einer der erfolgreichsten deutschen Galerie zu machen?

KW: Anders, aber geschafft hätte er es! Er hat ein großes Talent. Was er braucht, ist ein gutes Team. Wenn wir es nicht wären, dann säßen hier zwei andere Frauen.

Judy Lybke möchte unsterblich werden, mindestens aber 105 oder 109. Wie geht es mit der Galerie weiter? Was passiert, wenn er in Rente geht?

KW: Judy hat gute Gene, der schafft die 105. Für den Fall, dass wir alle drei weg sind, muss man vorbereitend strategisch arbeiten und ein großes Augenmerk auf die nächste Generation legen. Unser Berufsbild ist übergreifend: Früher kamen Sammler zur Tür rein und haben ein Bild gekauft. Heute verkaufst du ihnen ein Lebensgefühl. Da musst du auch Zeit investieren. Wenn wir älter werden, müssen wir damit nicht aufhören. Wir können weniger oder inhaltlicher arbeiten. Das hat auch eine Qualität, dass man bei Eigen + Art älter werden kann.

Wie wird der 40. Geburtstag der Galerie gefeiert?

KW: Judy feiert am 10. April bei sich in Potsdam ein großes Fest mit Mitarbeitenden und Begleiterinnen und Begleitern der Galerie!

Kerstin Wahala wurde 1962 in Aschersleben geboren und wuchs in Magdeburg auf. Von 1983 bis 1990 studierte sie an der Karl-Marx-Universität Leipzig Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte.1990 war sie Gründerin der Galerie Stöck Art in Leipzig. Im September 1990 wurde sie die erste Mitarbeiterin der Galerie EIGEN + ART. Seit 1992 lebt sie in Berlin, wo die Galerie neben Räumlichkeiten in Leipzig einen zweiten Standort eröffnete und ist seit zwölf Jahren Senior Partner der Galerie. 2012 war sie Gründungsstifterin der Grafikstiftung Neo Rauch und seit Beginn die Vorsitzende des Vorstandes.

Elke Hannemann wurde 1964 geboren und studierte Kultur- und Literaturwissenschaften an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, an der sie anschließend drei Jahre lehrend tätig war. 1991 und 1992 arbeitete sie in der Galerie Knoll in Wien. 1993 kehrte sie nach Leipzig zurück und übernahm den Leipziger Standort der Galerie Eigen + Art. Heute ist sie Senior Director und war in den vergangenen Jahren mehrfach Lehrbeauftragte an den Universitäten in Leipzig und Halle-Wittenberg.

Mit Standorten in Berlin und Leipzig vertritt die Galerie Eigen + Art als Galerie für zeitgenössische Kunst mehr als 36 internationale Künstlerinnen und Künstlern  in den Medien Malerei, Film und Video, Fotografie, Installation und Skulptur sowie im Bereich Konzeptkunst und Performance. Gerd Harry Lybke gründete die Galerie Eigen + Art am 10. April 1983 am Körnerplatz 8 in Leipzig in der ehemaligen DDR. War sie in den Anfangsjahren vor allem ein illegaler Treffpunkt, an dem Ausstellungen, Happenings und Performances stattfanden, entwickelte sich die Galerie schnell zu einer bekannten Adresse für ein ambitioniertes Ausstellungsprogramm, schon damals unter Beteiligung von Künstlerinnen und Künstlern, die noch heute im Programm vertreten sind, wie Carsten Nicolai, Neo Rauch oder Olaf Nicolai.