Konservative Eltern aus dem US-Bundesstaat Florida und die kanadische Sex-Website Pornhub haben überraschenderweise eine übereinstimmende Sicht auf Kunst: Beide halten berühmte Renaissance-Werke mit ihren entblößten Idealkörpern offenbar für Pornografie. Im Sommer 2021 veröffentlichte die Video-Plattform die Kampagne "Classic Nudes", in der die italienische Erotik-Schauspielerin und Politikerin Cicciolina freizügige Skulpturen und Gemälde anpries. Tenor: "Einige der besten Pornos sind nicht auf Pornhub, man findet sie nur in einem Museum."
Am Wochenende ging nun die Meldung durch die Medien, dass eine Schulleiterin aus Florida nach Eltern-Protesten ihren Job verloren hat, weil sie ihren Schülerinnen und Schülern ohne Vorwarnung Michelangelos nackte David-Skulptur aus Florenz gezeigt hat. Die Zuschreibung "Pornografie" ist hier kein offensives Marketing, sondern der Vorwurf der Kindeswohlgefährdung. Die Geschehnisse waren vielleicht nicht ganz so dramatisch wie teilweise dargestellt (der Vorsitzende des Schulausschusses von Tallahassee sagte der "Huffington Post", der Vorfall sei nur einer von mehreren Gründen für die Kündigung der Lehrerin gewesen). Sie taugen aber für entsetztes Nach-Luft-Schnappen: "Unsere schöne Renaissance-Kultur Pornografie? How dare you!" Dabei könnte die Geschichte unter anderem als Erinnerung dienen, dass diese spezifische Art von "Cancel Culture" in den USA überwiegend kein Auswuchs einer vermeintlich woken Sensibilitätslinken ist, sondern aus dem Puritanismus eines konservativen, oft evangelikalen Milieus kommt.
Doch wie immer bei solchen Verbotsdebatten nützt die reflexhafte Empörung eigentlich der Kunst. Denn sie könnte ein guter Anlass sein, sich den Florentiner David jenseits des Touristenmagneten-Klischees noch einmal genau anzuschauen - und zu überlegen, was seine Nacktheit eigentlich bedeutet. Kunsthistorisch betrachtet hat Michelangelo mit seinem fünf Meter hohen Marmormann einerseits das zeitlose Ideal eines Kämpfers geschaffen, andererseits ist jede einzelne Partie so fein ausgearbeitet, dass ein einzigartiger Körper entsteht. Biblische oder mythische Figuren konnten Künstler stets einfacher nackt darstellen als irdische Wesen, schließlich schwebten die Heiligen und die Titanen über allen niederen menschlichen Regungen.
Nacktheit in der Kunst ist mehr als Erregung
Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch sakrale Sujets dazu genutzt wurden, um profane Erotik zu erzeugen. Besonders im Mittelalter und im Rokoko gibt es viele Darstellungen fleischlicher Freuden, die den floridianischen Eltern wohl die Schames- oder Wutröte ins Gesicht treiben würden. Die Interpretation von Pornhub, bei den altehrwürdigen Uffizien habe man es in Wahrheit mit einem künstlerischen Freudenhaus zu tun, ist also nicht ganz unmotiviert.
Ein Irrtum ist das Porno-Label trotzdem, denn in pornografischen Bilder erfüllen Nacktheit und zur Schau gestellte Genitalien einzig den Zweck der Erregung ihres Publikums. Kunst hat viel von diesen Bildern gelernt. Aber Künstlerische Nacktheit ist vielschichtiger und ihre Interpretation immer auch dem Zeitgeist unterworfen. Sie kann provozieren, betören oder in Andacht versetzen – oder alles davon gleichzeitig. Auch Michelangelos David war schon häufiger dem Zeitgeschmack unterworfen. So wurde ihm im 16. Jahrhundert vor dem Palazzo Vecchio ein züchtiges Feigenblatt in den Schritt modelliert, eine Kopie der Statue empörte die englische Königin Victoria im 19. Jahrhundert dermaßen, dass sie bei jedem royalen Besuch "angezogen" werden musste.
Der David ist also eine hervorragende Diskussionsgrundlage jenseits von kunsthistorischer Fachanalyse: Welche Körper finden wir ideal? Warum empört uns ein Marmorpenis, oder tut es eben nicht? Was ist "große Kunst" und wer schafft sie? Warum gibt es in der Renaissance-Skulptur so wenige weibliche Körper, die als "heroisch" gelesen werden? All das könnte man gut angeleitet auch im Schulunterricht besprechen.
Danke für die kostenlose PR
Außerdem erinnert der Vorfall aus Tallahassee, Florida, daran, dass vermeintliche Zensur von Kunst in einigen Fällen international Empörung hervorruft, während wir andere Arten von Unsichtbarmachung ziemlich klaglos akzeptieren. Der Uffizien-Direktor Eike Schmidt wies anlässlich des "Davidgates" bei "Deutschlandfunk Kultur" darauf hin, dass Social-Media-Plattformen wie Instagram oder TikTok regelmäßig Posts des Museums zensieren, wenn die geteilten Werke Nacktheit enthalten. Hier entscheiden nicht einmal mehr Menschen darüber, was Kunst und was Pornografie ist, sondern Algorithmen.
Insofern ist die Debatte ein guter Anlass, darüber zu sprechen, was wir aus welchem Grund sehen wollen und warum eine Renaissance-Skulptur mehr ist als die Summe ihrer Körperteile. Währenddessen steht der David äußerlich ungerührt im Contraposto auf seinem Sockel und freut sich vielleicht insgeheim über die kostenlose PR.