Zum sechsten Mal geht Christian Petzold mit einem Film ins Bärenrennen der Berlinale. Ein Gespräch mit dem Regisseur von "Roter Himmel" über eine Traumlandschaft an der Ostsee, warum er statt einer Dystopie doch lieber einen Sommerfilm gemacht hat und wozu man Trilogien planen sollte – und die Pläne getrost wieder verwerfen kann.
Christian Petzold, in Ihrem neuen Film "Roter Himmel" kommen vier junge Leute in einem Ferienhaus an der Ostsee zusammen. Ein Waldbrand breitet sich aus, kommt dem Haus bedrohlich näher. Ich habe gelesen, dass Sie mit "Undine", der ebenso, und zwar 2020, im Berlinale-Wettbewerb lief, eine neue Trilogie anfangen wollten. Paula Beer als Undine war halb Wassernymphe, halb Stadthistorikerin. In "Roter Himmel" spielt Beer wieder mit, aber hier fehlt ein mythologischer Hintergrund. Was soll sich also für eine Trilogie abzeichnen – über Wasser, Feuer und später Erde oder Luft?
Drei Filme über verschiedene Elemente hatte ich mir tatsächlich vorgenommen. In Trilogien zu arbeiten hatte mir Harun Farocki geraten, mit dem ich bis zu seinem Tod eng zusammengearbeitet habe. So hat man hat immer einen Plan, wie es thematisch ungefähr weitergehen kann. Das mit den Elementen habe ich in einem Interview erzählt, das hätte ich nicht sagen sollen. Inzwischen hat es sich erledigt.
Stattdessen zeichnet sich jetzt das Thema der Gruppe ab? Ich musste gerade daran denken, dass Sie schon vor zehn Jahren beim Gespräch über "Barbara" von der Idee erzählt haben, für eine Geschichte erstmals ein Ensemble von Schauspielern auf begrenztem Raum zusammenzubringen.
Ja, und es hat gedauert. Weil das sehr schwer ist. Ich habe viele Filme gemacht, die von zwei Menschen handeln, die auf dem Prinzip "Schuss – Gegenschuss" aufgebaut sind. Eine Gruppe zu filmen, ist auch eine große inszenatorische Herausforderung. In "Die innere Sicherheit" waren es drei, das ist schon nicht einfach. Ich würde gern wie Visconti arbeiten: Acht Leute an einem Tisch, die essen, über irgendwas reden, aber subkutan läuft noch eine andere Handlung ab. Wie löst man so eine Ensembleszene in Einstellungen auf? Welche Blickachsen gibt es, wann springt man von einer Einstellung zur nächsten? Über solche Fragen habe ich mir in den vergangenen Jahren viele Gedanken gemacht, weil ich, wie gesagt, große Lust hatte Gruppen zu filmen.
Wenn "Roter Himmel" der Anfang einer neuen Trilogie ist, worum geht es dann?
Ich möchte jetzt mehrere Filme machen, in denen es um Gruppen geht, die unter Druck geraten. Die nächste Geschichte soll um eine Familie kreisen, die im Zerfall begriffen ist, aber wieder zusammenfindet.
"Roter Himmel" spielt in Ahrenshoop an der Ostsee, der Ort steht auch für FKK-Kultur in der DDR. In der Gruppe der jungen Leute gibt es drei, die ihre Ferien genießen, und einen, der sich dem Genuss, der Sinnlichkeit verweigert. Das ist Leon, der Schriftsteller, der geht auch nicht Schwimmen mit den anderen.
Sinnlichkeit ist ein wichtiger Punkt. Ich musste schon bei der Arbeit an "Barbara", der in der DDR spielt, an die berühmten Nacktbilder von Angela Merkel denken, die am Strand gar nicht aussieht wie eine zukünftige Kanzlerin, sondern wie jemand, der Spaß an seinem Körper, am Leben, an Wind und Meer hat. Man ist fast schockiert, wenn man sieht, wie sinnlich Politiker sein konnten, bevor sie in die Maschinerie geraten sind. Die müssen ihre Körper abgeben, um in der Politik zu existieren. Aber wie transportiert man Sinnlichkeit im Film? Es gibt diese Fotos von Diane Arbus, die Nudisten draußen fotografiert hat – da hätte ich keine Lust, sowas zu filmen, die Bäuchlein, die Socken, weil man ja die Zigaretten und die Schlüssel irgendwo reintun muss. FKK ist total unerotisch.
Warum dann dieser Schauplatz?
Ich war nie dort. Aber ich habe Uwe Johnson gelesen, von dem im Film die Rede ist; durch seine "Jahrestage" wurde die Küste von Mecklenburg-Vorpommern eine imaginäre Landschaft für mich. Es ist ähnlich wie beim Mississippi in "Tom Sawyer", dass man literarisch dort gelebt hat. Gerade das Kino lebt von solchen Traumwelten. Wir waren nicht mal für den Dreh in Ahrenshoop, aber ich wollte, dass der Ortsname vorkommt. Wir haben vor allem in Rerik gedreht, das ist eine Autostunde entfernt.
"Roter Himmel" beginnt mit der Fahrt in einem Auto, in dem Leon und sein Kumpel Felix sitzen. Sie haben eine Panne, müssen zu Fuß durch den Wald, um zum Ferienhaus zu kommen, das Felix’ Mutter gehört. Felix geht schon mal vor, schultert das Gepäck, Leon bleibt im Wald. Felix ist im ganzen Film der Aktivere, während Leon sich verweigert und nur beschwert. Aber die Geschichte ist konsequent aus seiner Perspektive erzählt …
… ausgerechnet aus dem Blickwinkel dieses Stinkstiefels, ja! Leon schreibt an seinem zweiten Roman, der soll unbedingt gut werden. Und sein Verleger, den Matthias Brandt spielt, hat sich ja zum Arbeitsbesuch angekündigt. Leon redet ständig davon, dass er arbeiten muss, aber er spielt den Schriftsteller nur. Dahinter steht meine eigene Erfahrung mit meinem zweiten Film, "Cuba Libre" von 1995. Ich habe mich bei den Dreharbeiten permanent selbst beobachtet. Schon am zweiten Drehtag habe ich zu meiner Frau gesagt: "Es ist so grausam, ich bin ein Scharlatan, ich spiele nur Regisseur, da fühlt sich nichts richtig an". So ähnlich ist das bei Leon. Deshalb soll sein Roman auch "Club Sandwich" heißen: weil man zum Club Sandwich Cuba Libre trinkt. Für Leon wird ja alles immer schlimmer. Da sitzt dann abends noch jemand am Tisch, Devid, der ein viel besserer Geschichtenerzähler ist! Aber wir haben auch die Figur der Nadja, gespielt von Paula Beer, die es sich zur Aufgabe macht, den Stinkstiefel ins Kollektiv zu integrieren. Ihr Subtext: Den knacke ich auch noch. Ich habe den Schauspielern vorgeschlagen, dass sie an Jack Lemmon in Billy Wilders "Das Apartment" denken sollen. Lemmons Nachbar sagt zu ihm: "Be a mensch!" Diese Menschwerdung, dass die Scheuklappen fallen, dass man wieder sieht und riecht und schmeckt, dass ist die Entwicklung, die auch Leon durchmacht.
Neben Matthias Brandt und Paula Beer, die schon öfter in Petzold-Filmen dabei waren, haben Sie erstmals mit Thomas Schubert (Leon), Langston Uibel (Felix) und Enno Trebs (Devid) gearbeitet. Wie wurden die gecastet?
Eigentlich gar nicht. Ich hasse die üblichen Vorsprechen, bei denen man 100 Leute testet und 99 wieder nach Hause schickt. Ich will nicht Personalchef spielen. Ich habe lange mit der Castingdirektorin Simone Bär gearbeitet, die leider im Januar gestorben ist, für "Roter Himmel" hat sie noch die Besetzung gemacht. Und Simone hat von Anfang an von einem kompletten Ensemble gesprochen, bei dem man überlegt hat: Wer passt mit wem zusammen? Das haben wir uns vorher überlegt, und diese Gruppe wurde dann eingeladen, ohne dass jemand noch vorsprechen musste.
Inwiefern verändert der Cast dann noch einmal den Film, wie er drehbuchmäßig geplant war?
Da ändert sich viel. Ursprünglich war "Roter Himmel“ eine dystopische Geschichte. Aber Paula Beer hat gesagt, sie habe keine große Lust auf die Brutalität, die mit einer Dystopie einhergehe. Mir gefiel der Entwurf auch nicht mehr. Dann bekamen sowohl Paula als auch ich von unserem französischen Co-Produzenten eine DVD-Box mit dem Gesamtwerk von Eric Rohmer geschenkt. Bei diesem Regisseur gibt es etwas, das man in deutschen Filmen nicht kennt, den Sommer in Frankreich, die großen Ferien, in denen man sich verschwendet, verirrt, am Strand sitzt, quatscht und Pommes isst. Warum gibt es dieses Genre in Deutschland nicht? Und warum lässt sich Gustave Flauberts Begriff von der "Éducation sentimentale" so schlecht ins Deutsche übersetzen? Das Verbummelte, Unproduktive, das uns aber zum "real mensch" macht, ist uns eher fremd und suspekt. Ich musste beim Drehbuchschreiben auch an diese G8-Scheiße denken, die den jungen Menschen ein Schuljahr wegnimmt und den Bologna-Prozess, der die Universitäten zu Lernfabriken macht, dass es nur noch um Punktemachen geht, dass der Kapitalismus inzwischen auch die Jugend voll im Griff hat. Im Film haben wir im Kontrast dazu dieses Ferienhaus, diese Lichtung im Wald, in der man sich verschwenden darf. Nur der Leon kapiert es noch nicht.
Wie wird denn im deutschen Film sonst Jugend dargestellt? In der aktuellen Berlinale-Retrospektive "Young at Heart. Coming of Age at the Movies" ist von 28 Filmen über das Jungsein und Erwachsenwerden nur ein einziger deutscher Film dabei, Werner Herzogs "Jeder für sich und Gott gegen alle".
Unsere Coming-of-Age-Filme erzählen meistens von jungen Leuten, die nach einem halben Jahr Berlin wieder nach Hause fahren.,um zu sagen: Mama, ich bin schwul. Oder sie leiden darunter, dass die Eltern sich scheiden lassen. Insofern ist "Denn sie wissen nicht, was sie tun" mit James Dean ein schwieriges Vorbild.
Nicholas Rays Film mit dem Originaltitel "Rebel without a cause" von 1955 hat die Filmreihe der Berlinale sogar inspiriert. Was ist falsch an dem Klassiker?
Nichts. Das ist ein großartiger Film! Das Problem ist: Der Vater als Lachnummer, die Väter und Mütter, an denen sich die jungen Leute in diesem Film abarbeiten – das ist im deutschen Film zum Modell geworden. Die Eltern verbieten den Kindern die Gefühle. Das ist der Standard. Ich habe mit "Roter Himmel" etwas anderes versucht. Die Jungen sind für sich. Später kommt ein Älterer dazu, der Verleger, aber nicht als Verbieter oder Respektsperson. Matthias Brandts Figur ist todkrank. Aber auch wenn er wohl bald sterben muss, weiß er, dass die jungen Leute weitermachen. Die sind quasi stärker als das Feuer, das sie bedroht.
Es ist ja schon ein apokalyptisches Feuer, das Sie entfachen. Stimmt das denn wirklich, dass die Dystopie jetzt raus ist aus dem Film?
Das Jetzt wird als Endzeit empfunden, das ist das Grundgefühl, das stimmt. In "Roter Himmel" bleibt die Katastrophe aber im Hintergrund. Ich habe den Eindruck, dass dystopische Filme heute den Weltuntergang buchstäblich begrüßen. In der Serie "The Walking Dead" und auch in anderen Fiktionen gibt es so eine Rhetorik: Endlich sind sie alle weg, die Mitmenschen. Endlich sind wir das Gesellschaftliche, die Moral los. Das Kino hat häufig die Sehnsucht, die Dinge einfach zu machen. Diese Art Dystopie finde ich furchtbar. Wir haben die Dürre und die Waldbrände ja real erlebt während der Dreharbeiten, haben die Sirenen gehört. Das ist eine reale Gefahr. Aber auch Teil dieses Lebens, eine Zeit des Raubbaus und der Zerstörung, in der wir ja trotzdem ein gutes Leben führen müssen. Ich wollte auf der Waldlichtung, in diesem Haus zeigen – wie wunderbar es ist, Mensch zu sein.
Auf der Berlinale bekommt jetzt Steven Spielberg einen Ehrenbären. Dazu werden in einer "Hommage"-Reihe einige von seinen Filmen gezeigt, darunter der aktuelle "The Fabelmans", in dem mehr oder weniger der junge Spielberg die Hauptfigur ist und die Eltern eine wichtige Rolle spielen. Bei Spielberg kommen ja sehr oft Familien vor, in Ihren Filmen kaum. Warum als nächstes ein Familienfilm?
Spielberg sehe ich anders. Mein Lieblingsfilm von ihm ist "Unheimliche Begegnung der dritten Art". Die erste halbe Stunde des Films ist fantastisch! Es gibt darin eine Familie, ja, aber die zerbricht, der von Richard Dreyfuss gespielte Familienvater wird zum Einzelgänger, der Frau, Kinder und schließlich die Erde verlässt. Was mich angeht: In "Die innere Sicherheit" habe ich 2000 von einer Kleinfamilie erzählt, von drei Menschen, die ihre familiären Rituale haben, die im Auto auf der Flucht sind, die zusammengeschweißt sind. Nach diesem Film habe ich mich auf vereinzelte Figuren konzentriert, die Mutter in "Wolfsburg", die ihr Kind verloren hat, die Ärztin "Barbara" in der DDR oder die Jüdin, die das Konzentrationslager überlebt hat, aus "Phoenix". Inzwischen finde ich, dass diese aus der Welt gefallenen Figuren auserzählt sind.
Mit dem Thema "Gruppe" brechen Sie zu etwas Neuem auf. Wie ist es aus Ihrer Sicht eigentlich um den deutschen Film bestellt? Im Berlinale-Wettbewerb laufen fünf Filme aus Deutschland, eine Rekord-Quote! Geht es bergauf mit dem deutschen Kino?
Es klingt zumindest nach Aufbruch. Wir raffen uns auf. Es wird viel über Fernsehformate nachgedacht, aber Kino ist was anderes. Ich kann die anderen Berlinale-Filme nicht kommentieren, weil ich sie noch nicht kenne. Die Aufgabe ist klar: Wir sollten nicht die ausländischen Stoffe und Muster kopieren, sondern in diesem Land eigene Erzählungen finden. Das Ausland interessiert sich ja nur für uns, wenn wir über uns erzählen können. Wenn Berlin aussieht wie Los Angeles, ist das ebenso uninteressant wie Schauspielerinnen, die amerikanische Stars kopieren.