"Man versteht alles über den Kosmos, wenn man wirklich sieht, was Kunst bewirken kann." Davon ist Vivienne Westwood überzeugt. Und kurz nach ihrem Tod im Dezember 2022 hilft sie nun allen Hinterbliebenen, Kunst auf eine Weise zu verstehen, die sie sich selbst angeeignet hatte. Im neuen Dokumentarfilm "Art Lovers Unite!" führt die Modedesignerin das Publikum pothum durch die Gemäldegalerie in Berlin, geht auf ihre liebsten Kunstwerke ein, erklärt Details und lässt die faszinierende Persönlichkeit und das weite Wissen der Dame Westwood noch einmal aufleben.
Der Streifen wird als eines der letzten gefilmten Dokumente gehandelt, das die britische Königin der Mode und des Punks porträtiert. Begleitet wird Westwood von Dacob, einem Künstler und YouTuber, der zusammen mit Patrick J. Thomas auch die Regie geführt hat.
"Buy less" steht auf dem weißen T-Shirt der Modedesignerin, an den Armen trägt sie weiß-blau-gestreifte Stulpen, dazu einen langen schwarzen Rock und einen "Climate Revolution"-Button, als sie Dacob in der Gemäldegalerie begegnet. Vor 16 Jahren habe sie in hier als Lehrerin gearbeitet, einmal alle zwei Monate für drei Tage. Den vierten Tag jedoch habe sie allein in den Räumlichkeiten des Museums verbracht, "Ich liebe einfach alles hier", erklärt sie.
"Welches Gemälde würdet ihr retten?"
Dann beginnt eine Reise, in der man Westwoods Lebensmotto immer wieder zu spüren bekommt: "Man bekommt heraus, was man hineingibt." Man müsse in etwas investieren, sich mit etwas befassen, interagieren, um es wirklich zu verstehen und davon zu profitieren. Das gelte gerade bei der Betrachtung eines Gemäldes. "Es ist kein Konsum, du saugst es nicht einfach so auf." Und dass sich Westwood eingehend mit den Schöpfungen auseinandergesetzt hat, kommt vor allem den Zuschauenden zugute. "Als ich gelehrt hab, stellte ich meinen Schülern eine Aufgabe: Bevor ihr einen Raum verlasst, überlegt, würde jetzt der Feueralarm los gehen, welches Gemälde würdet ihr retten?" Beschäftige man sich fortlaufend mit Kunst, würde die Wahl ein halbes Jahr später eine andere sein als heute, ist sie überzeugt.
Von Epoche zu Epoche arbeiten sich Westwood und Dacob durch die eleganten Räume. "Er atmet, es scheint, als wäre er am Leben", bewundert Westwood etwa das Bildnis eines jungen Mannes von Giorgio da Castelfranco Giorgione. Sie ist augenscheinlich von den Emotionen, dem Können und der Präsenz, die in den Kunstwerken stecken, so gefesselt, dass es für ihr Publikum selbst über die Leinwand oder den Bildschirm mitreißend wirkt.
Zur "Madonna Terranuova" von Raffael möchte sie gar nicht mehr sagen, als dass sie durch ihre Perfektion wie von einem anderen Planeten scheint. "Kunst ist etwas, das nur Menschen hervorbringen können und sie hilft dir, die Welt zu verstehen, weil sie die Zeit stillstehen lässt", ist eine der Erkenntnissen der Britin, die sie immer wieder in gutmütiger wie fundierter Weisheit ihrem jüngeren Gegenüber nahebringt. Generell würde man sich fast wünschen, nur sie selbst über die Gemälde reden zu hören, ihr die volle Bühne zu geben und Dacob als den präsenten Zuhörer an ihre Seite zu stellen, der nur ab und an eine Frage stellt.
Filmisches Vermächtnis
Vielleicht, weil sie nicht mehr unter den Lebenden weilt, möchte man all das aufsaugen, was Vivienne Westwood zu sagen hat. In den schönsten Szenen analysiert sie Gemälde wie ein Kind die Seiten eines Wimmelbuchs, entdeckt kleine Hunde in der Ecke, eine Katze auf dem Dach, einen Jungen, der um einen Pfannkuchen bettelt. Überlegt sich die Geschichte der Dame, die vor ihrem Hauseingang – oder ist es ein Zelt? – Gebäck zubereitet, bindet ihren Gegenspieler und die Zuschauer in ihre fantasievollen Visionen mit ein.
Dann glänzt sie wieder mit ihrem Repertoire der Kunst- und Kostümgeschichte und ergötzt sich an dem dunklen Kleid einer Figur auf einem Gemälde des Malers Diego Velázquez. "Wie würde so etwas deine eigene Arbeit inspirieren?" fragt Dacob. "Ich habe es nie direkt für etwas benutzt. Aber du absorbierst Dinge", lautet die Antwort.
Dieser Film kann als Vivienne Westwoods Vermächtnis gesehen werden, an all die, die wie sie selbst nicht aufhören wollen zu lernen. Zu absorbieren. Zwischen vielen historischen Einordnungen ist es vor allem der intime Einblick in Westwoods reichen Geist, der die 75-minütige Museumstour prägt und über etwas zu detailliertes Fachsimpeln an mancher Stelle hinweghilft. So wird nicht nur die Frage, ob unser Wissen auch ohne unseren Körper weiterlebt, beantwortet, sondern auch festgestellt, dass es in der Kunst keinen Fortschritt gibt. Der Höhlenmensch war genau so gut wie Pablo Picasso. Westwood als Lehrerin gehabt zu haben, muss fantastisch gewesen sein. Und so viel sei verraten: Ein weiteres Enkelkind hätte sie gern Hercules getauft. Nach dem Schöpfer des Gemäldes, das sie retten würde, sollte der Feueralarm losgehen.