Als ich vor einigen Jahren mit dieser Kolumne anfing, war schon relativ klar, dass Künstliche Intelligenzen thematisch eine wesentliche Rolle spielen würde. Auch im vergangenen Jahr ging es immer wieder um KI. Sei es, dass sie Bilder für uns malen, schicke Selfies basteln oder Texte schreiben. Primär ging es bis dahin darum, dass so etwas prinzipiell funktioniert, an menschliche Kreativität und Umsetzung erstmal aber nicht heranreicht. Ein bisschen wie Elefanten in Zoos, die Bilder malen, Kinder, die Salti machen oder Papageien, die Lieder singen. Es ist faszinierend und begeisternd, aber so richtig ernst zu nehmen war das lange Zeit nicht. Auch meine persönliche Euphorie hielt sich bisweilen in Grenzen. Sollen die KI doch erstmal abliefern, dachte ich.
Wie es scheint, ist dieser Zeitpunkt allmählich erreicht.
Es klingt floskelhaft, aber die technologischen Entwicklungen sind derzeit schneller als man es nachvollziehen könnte. So als wäre der Sektor KI die letzten Jahre wie ein riesiges unterirdisches rhizomatisches Geflecht gewachsen und hätte sich dabei ein stabiles Fundament geschaffen, sprießen nun die sichtbaren überirdischen Pilze unüberschaubar aus dem Boden. Andere sagen, die Büchse der Pandora sei geöffnet worden.
Es gibt kaum Bereiche, die von den Entwicklungen nicht betroffen sind. Man lehnt sich auch nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man behauptet, dass 2023 das erste große Jahr der KI werden wird. Das liegt zum einen daran, dass es unzählige Plattformen gibt, die nun auch "normalen" Usern Zugriff auf die Potenziale ermöglichen, zum anderen aber auch, weil es allmählich aber sicher zu einem massiven Markt konsolidiert und die Phase des hinterzimmerhaften Experimentellen überwunden zu sein scheint.
Jetzt geht es vor allem um Monetarisierung
Seitdem Microsoft kürzlich bekannt gab, dass weitere zehn Milliarden Dollar in Open AI investiert werden, scheint eine neue Zeitrechnung im Silicon Valley angebrochen. Open AI ist unter anderem für ChatGPT und Dall-E 2 verantwortlich. Und obwohl Open AI einst damit für sich warb, unabhängig und offen zu sein, scheinen diese Tage nun auch gezählt. Ab jetzt geht es vor allem um Profitabilität und Monetarisierung – das ist die alte Leier sobald Milliarden in ein aufsteigendes Start-up investiert werden.
So sollen die aus ChatGPT bekannten Large Language Models (kurz LLM) in Produkte wie Microsoft Office und der Suchmaschine Bing implementiert werden. Mit Azure Open AI Service wird eine globale Infrastruktur für AI-gesteuerte Unternehmenslösungen geschaffen. Neben dem LLM GPT-3.5 sind da auch Codex und Dall-E 2 inkludiert.
Bei dem derzeitigen Suchmaschinen-Giganten Google sorgt diese Entwicklung für Bauchschmerzen und der CEO Sundar Pichai soll intern den "Code Red" ausgerufen haben, die höchste Alarmstufe also, und selbst die ehemaligen Chefs Larry Page und Sergey Brin sollen dafür wieder aus ihrem dekadenten Vorruhestand in die Firmenzentrale gerufen worden sein. Man fürchtet um die Vormachtstellung im weltweiten Suchmaschinengeschäft. Zeitgleich hat Microsoft 10.000 Stellen abgebaut, was schon fast zynisch anmutet. Wer sich mit den scheinbar unendlichen Möglichkeiten auseinandersetzt, wird sich die Frage stellen müssen, inwiefern Künstliche Intelligenzen in den nächsten Jahren nicht nur technologisch, sondern vor allem gesellschaftlich Einfluss auf unsere Welt nehmen werden. Dazu einige Beispiele.
Lernen
Die Wharton School gilt als eine der angesehensten Wirtschaftsuniversitäten der Welt und gehört zur Ivy League. Der dort lehrende Professor Christian Terwiesch überprüfte, wie sich ChatGPT bei der MBA-Abschlussprüfung schlagen würde und hat dazu ein Whitepaper verfasst. Die KI bestand die Abschlussprüfung mit der Note B, also einer Zwei. Zwar zeigte das System teils eklatante Fehler bei einfachen Matheaufgaben, aber im Gesamtbild reichte die Leistung mehr als aus. Aber nicht nur an der Wharton School konnte ChatGPT überzeugen. Das Programm bestand das sogenannte Bar Exam für angehende Jurist:innen, so wie das dreiteilige US Medical Licensing Exam, das für Studierende der Medizin obligatorisch ist.
Was das für die Bildung bedeutet, ist noch schwer abzusehen. Aber das Konzept des Lernens und der schulischen wie universitären Bildung wird sich umgehend neu definieren müssen. Reaktionäre Forderungen wie Klausuren mit Stift und Papier wie im 20. Jahrhundert wieder einzuführen oder Plattformen wie Perplexity.ai und ChatGPT in den jeweiligen Institutionen zu blockieren, wird wenig bringen. Als hätte das Bildungssystem derzeit nicht genug Probleme, wird man sich wohl oder übel neu erfinden müssen.
Dass das ein Belastungstest für die ohnehin trägen und maroden Schulsysteme werden wird, kann man sich vorstellen. Was ist die Rolle von Lehrenden im Allgemeinen für die Zukunft? Wie sehen adäquate Lehrkonzepte aus? Die Tragweite dieses Diskurses ist definitiv eine andere als zu Beginn des Jahrhunderts, als noch hitzig diskutiert wurde, ob Wikipedia und Online-Quellen in akademischen Arbeiten überhaupt zitiert werden dürften.
Sprechen
Beim Thema Sprachsynthese denken viele an die oft hölzern wirkenden Siri oder Alexa. Aber auch im Bereich Text-to-Speech ist viel passiert und bei einigen Gewerken dürfte auch das für kalte Füße sorgen. Murf.ai bietet Sprachsynthese auf Textbasis für alle möglichen Ausspielarten an: für Werbespots, Podcasts, Lehr- und Lernvideos.
Musste man bislang für Videos Sprecher:innen engagieren und ein Studio mieten, funktioniert die KI-basierte Sprachausgabe mehr als ausreichend für die allermeisten Fälle. Apple arbeitet derzeit an neuen KI-Sprachsynthesen für ihre Sparte Audiobücher. Auch hier klingen die ersten Beispiele nicht schlecht und könnten viele Hörbuch-Produktionen obsolet machen, solange der Autor oder die Autorin damit einverstanden sind.
Schreiben
Als ich wie derzeit Millionen anderer Menschen einige Zeit mit ChatGPT verbrachte, war ich teils sprachlos, was im Bereich Textproduktion mittlerweile möglich ist. Vor einiger Zeit hatte ich schon mit Moonbeam experimentiert. ChatGPT ist nur eine Plattform von vielen, die mit LLM arbeiten. Aber auch mir kam die Frage auf, ob es in Zukunft überhaupt noch Bedarf an Autor:innen, Texter:innen, Journalist:innen und Redakteur:innen geben wird.
Die Antwort lautet ja und nein. Ein KI-Chatbot kann keine Interviews führen und auch keine investigativen Recherchen schreiben. Was ChatGPT aber erstaunlich gut kann, sind zum Beispiel Aufgaben wie: "Schreibe einen Suchmaschinen-optimierten Webseitentext für ein Yoga-Studio im Berlin-Schöneberg." Aber auch Arbeiten wie Übersetzungen und Korrektur von Texten sind durchaus vielversprechend, wenn zwar nicht perfekt. Das sind Menschen in der Regel jedoch auch nicht, die Zeitersparnis ist indes immens.
So bliebe prinzipiell mehr Zeit, zum "Schönmachen" von Texten. Aber auch hierfür gibt es bereits Lösungen wie DeepL Write. Noch befindet sich das Lektoratsprogramm in der Beta-Phase, aber das Kölner Unternehmen, das vor allem durch die Übersetzungs-Software DeepL bekannt geworden ist, liefert solide Ergebnisse und dürfte zumindest für Sachtexte viele Stunden redaktioneller Arbeit einsparen. Vielleicht ist es am Ende nur fair, dass Texte, die ohnehin für Suchmaschinen und Algorithmen geschrieben werden, von vornherein von Maschinen produziert wurden. Welche Bedeutung bleibt dieser Art von Texten noch?
Streiten
Sich rechtlichen Beistand zu leisten, ist in der Regel sehr teuer, aber auch hier gibt es erste KI-Lösungen. So bezeichnet sich die App DoNotPay als der erste Roboter-Anwalt der Welt. Der KI-Anwalt kann sich laut eigener Aussage um diverse Belange kümmern: Gratis-Abos automatisch kündigen, gegen Firmen, Krankenhäuser und Behörden vorgehen, Entschädigungen von Fluggesellschaften einklagen, nach versteckten Einnahmequellen suchen und einfach jede und jeden verklagen ("sue anyone"), wenn mal die Stimmung schlecht ist. Selbst um Scheidungen will sich die KI kümmern. Komplexe und anspruchsvolle Straffälle wird mittelfristig auch diese App nicht klären können. Natürlich ist das US-Rechtssystem auch ein anderes als hier. Aber dass in Zukunft KI-Anwälte sich gegenseitig Abmahnungen und Vergleichsangebote schicken könnten, ohne dass je ein Mensch drauf guckt, wäre doch ein interessantes Szenario.
Was wird mit den Millionen Bullshit-Jobs?
Diese Beispiele geben eine vage Vorahnung auf das, was auf die Gesellschaft zukommen wird. Dabei wird es nicht nur darum gehen, zu fragen, wie man persönlich die Technologien adaptiert. Wie beim Thema Bildung deutlich gemacht, wird es viel mehr eine gesamtgesellschaftliche und politische Herausforderung werden, die man so zeitnah wie möglich zu adressieren hat. Gerade die gesellschaftliche Funktion von Arbeit gehört hinterfragt.
Das übliche Versprechen, dass durch den Einsatz von KI viel mehr Zeit für kreative und strategische Kapazitäten freigeschaufelt würden, ist mit Sicherheit richtig. Auch für Software-Programmier:innen bieten LML enorm viel Potenzial. Aber sehr viele Firmen und Arbeitsprofile sehen Kreativität, gute Ideen und Strategie schlichtweg nicht vor.
Außerdem darf man nicht von allen erwarten, plötzlich von Newsletter-Copywriter auf Bestseller-Autor:in umzuschulen. Die brillante juristische, medizinische, literarische oder künstlerische Leistung wird weiterhin von Menschen gemacht werden. Viele basale Arbeiten wie einfache Bilder, Logos oder Texte für das eigene Restaurant erstellen oder das Überprüfen von Verträgen können nun mehr oder weniger selber gemacht werden – und das in einer passablen Qualität, gerade wenn keine großen Budgets für externe Freelancer vorhanden sind.
Interessanterweise sind heute extrem prekäre Sektoren wie Pflege, Sozialarbeit, Erziehung oder Physiotherapie von der Entwicklung so gut wie gar nicht betroffen. Auch Handwerk, Handarbeit und andere Aufgaben mit anspruchsvoller Hand-Augen-Koordination werden nicht an Bedeutung verlieren. Aber was ist mit den Millionen Bullshit-Büro-Jobs, die unser Leben derzeit so dominieren? Wird aus uns eine Welt der Künstler:innen, Musiker:innen und Pflegenden? Werden wir uns von der täglich quälenden Computerzeit befreien können? Und wenn ja, wer bezahlt dafür?
Dass technologische Fortschritte Potenziale zur Selbstermächtigung haben, aber zugleich Gefahren implizieren, zeigt sich am Thema KI 2023 so präsent wie lange nicht. Das liegt auch daran, weil so viele Lebensbereiche davon betroffen sind und sein werden. Letztlich bleibt es eine politische Frage. Ob jedoch die Politik in diesen Zeiten für diesen Diskurs bereit und darauf vorbereitet ist, steht auf einem anderen Blatt Papier.