Lesen, so hat es die Essayistin Susan Sontag einmal formuliert, bedeutet, "ein Messer in das Leben der anderen zu rammen". Intelligenz hatte für die exzentrische New Yorkerin auch immer etwas mit Wettbewerb zu tun, mit der Sehnsucht, andere auszustechen. Und Bücher boten ihr seit ihrer Kindheit eine Möglichkeit, in ihrem Kopf an jeden Ort dieser Welt zu reisen.
Am 16. Januar wäre Sontag, die 2004 an den Folgen einer Krebserkrankung starb, 90 Jahre alt geworden. Und es ist nicht nur die Nostalgie für eine der scharfsinnigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, die einen derzeit wieder zu ihren Texten lockt. Angesichts der gegenwärtigen Debatten wirkt vieles von dem, was Susan Sontag geschrieben hat, prophetisch. Über die Ethik von gewaltvollen Bildern gibt es in Social-Media-Zeiten einiges zu besprechen, die Metaphern für Krankheit waren in der Coronapandemie allgegenwärtig, und die von ihr beschriebene queere Camp-Ästhetik bestimmt die Kunst und die Popkultur der Gegenwart.
Wer einen unkomplizierten Einstieg oder Wiedereinstieg in den Sontag-Kosmos sucht, kann diesen in dem neu erschienenen Bändchen von Anna-Lisa Dieter finden. Auf kompakten 100 Seiten nähert sich die Münchner Autorin und Kuratorin der Person und ihrem Werk mit angenehmer Leichtigkeit und nimmt deren Leidenschaft für Listen ernst. So erfährt man beispielsweise, wie man einen typischen Samstag à la Sontag verbringen sollte ("Sie wachen auf und empfinden Wut", "Nehmen Sie 10–20 mg Speed, um noch 4 Stunden an Ihrem Essay schreiben zu können").
Vielleicht ist das Schönste, das man heute von der US-Autorin lernen kann, sich einfach für alles zu interessieren. Und wer ihr enormes Lesepensum nachmachen will, kann mit den ausführlichen Sontag-Biografien von Sigrid Nunez, Daniel Schreiber oder ihrem Sohn David Rieff weitermachen.
Dieser Text ist zuerst in Monopol 01/2023 erschienen.