In der Ausstellung "Healing" im Frankfurter Museum Weltkulturen sind in eine Holzstele drei Quarzkristalle eingelassen. "Bitte Podest betreten – und heilen" steht auf einen Schild. Die Ausstellung beschäftigt sich mit Objekten aus verschiedenen Kulturkreisen, denen eine heilende Wirkung zugesprochen wird. Die Performancekünstlerin Marina Abramovic hatte sich in Brasilien mit Schamanismus beschäftigt und diese Quarze mitgebracht.
Neulich kam per Email eine automatische Abwesenheitsnotiz mit den Worten "I’m currently unwell". Pseudoprivate PR-Floskeln wie "Ich hoffe, du hattest ein schönes Wochenende" oder "Bestimmt war es aufregend in Miami" kennt man. Aber "unwell" als Auto-reply an alle ist besorgniserregend diffus. Neu ist, dass eine Information, die zuvor in der beruflichen Öffentlichkeit eher geheim gehalten worden wäre, plötzlich zum Zeichen von professioneller Verbindlichkeit geworden ist.
Mir fiel ein Satz aus einer verstaubten Sitcom ein, in der die eiskalte Mutter zur jammernden Hauptfigur sagt: "Wir sind alle krank. Aber wir sind auch diskret." Teil 1 des Bonmots stimmt mehr denn je: Wir sind alle krank. Zumindest erzählen wir uns das ständig. Aber was entsteht aus dieser Feststellung? Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass es ihnen schlecht geht und dass alles den Bach runtergeht, war bislang vor allem ein Instrument populistischer Politik. Die Prämisse des "being unwell" hat auch in der Kunst eine große verbindende Kraft.
Zeige deine Wunde, aber dalli!
Es gibt immer irgendwo eine Ausstellung, die sich mit Heilung beschäftigt. Denn die Diagnose steht ja schon. Der Künstler Kader Attia hat sein gesamtes künstlerisches Oeuvre (und im Sommer eine ganze Berlin-Biennale) aus gesellschaftlichen und körperlichen Verletzungen und Traumata aufgebaut. Er legt damit faszinierende und unangenehme Assoziationsströme frei. Nichts ist je "wieder gut", wie man es beim Pusten auf Kinderknie sagt. In der Ausstellung "Yoyi! Heal Care Repair" im Berliner Gropius Bau untersucht Attia zum Beispiel die Erfahrung der Ostdeutschen, im eigenen Land durch das kapitalistische Narrativ kolonialisiert worden zu sein. "Diese historische Wunde bleibt ein unentrinnbares Trauma", heißt es, Reparatur ausgeschlossen.
"Zeige Deine Wunde" wird wörtlich genommen, auch ganz persönlich. In Performances werden Tränke verabreicht oder Kräuter verbrannt, Berührungen ausgetauscht, es wird gemeinsam gesummt und geweint. Dagegen ist nichts zu sagen, aber welche produktive Kraft lässt sich daraus schöpfen, auf exponierte Wunden zu starren? Selten leitet sich daraus ein politischer Furor ab wie bei Arthur Jafas "Slave George", dem Relief eines geschundenen Körpers, dem unmenschliche Gewalt angetan wurde. Meistens fühlt es sich einfach voyeuristisch an.
Ist mein Unbehagen beim gemeinsamen Wundenzeigen eine Folge gesellschaftlicher Deformation? Wurde uns das offene Reden über Gebrechen aberzogen, weil das diskrete Schweigen den Systemgewinnern nutzt? Kann sein, aber anders als beim Reden über Ungerechtigkeit, über Geld, über Benachteiligung, drohen kaum Tumulte, wenn alle zeigen und sagen, wie schlecht es ihnen geht. Wie groß ist das umstürzlerische Potenzial noch, wenn man sich gegenseitig für heilungsbedürftig hält? Wenn man sich vor allem auf Versehrtheit geeinigt hat, die es zu beklagen und zu kurieren gilt?
Wut statt Heilung
Wie irreführend das Ideal eines "heilen" Menschen ist, wurde nirgendwo deutlicher als in der Ausstellung "Crip Time" im MMK Frankfurt letztes Jahr. Dort stellten ausschließlich Künstlerinnen und Künstler aus, die ihre von der Norm abweichenden körperlichen oder psychischen Konditionen in ihrer Kunst thematisieren. Genau diese gesellschaftliche Norm stellte die Ausstellung erhellend und drastisch in Frage. Niemand verlangte Heilung. Was alle teilten war Wut.
Auch die Künstlerin Nan Goldin appellierte bei ihrer Revolte gegen Purdue Pharma, einen Konzern, der das Sterben Zigtausender in Kauf nahm, vor allem an das Gerechtigkeitsempfinden, nicht an das Mitleid der Gesellschaft. Es war nicht in erster Linie das Sprechen über ihre persönliche Suchterkrankung, das diese beispiellose Kampagne antrieb, sondern beharrliche Auflehnung gegen Unrecht, Gier und Menschenverachtung. Klare Forderungen, klare Strategie, weltweiter Erfolg. "Being unwell" als Grund, auf die Straße zu gehen.