Sinthujan Varatharajah

"Ich erkläre, wie wir auf und in Bilder kamen"

Ausgehend von einem einzigen Foto erzählt das neue Buch von Sinthujan Varatharajah von der Prägung durch Sprache und kolonialen Spuren in Geografien der Gegenwart

In Sinthujan Varatharajahs Buch geht es auf den ersten Blick um Fotografie, Kolonialismus und Varatharajahs Geschichte: Im Zentrum steht ein Foto des Elefantengeheges im Münchner Tierpark Hellabrunn, das Varatharajahs Kindheitserinnerung anspricht. Varatharajah, in München als Kind tamilischer Geflüchteter geboren, erzählt aber mehr: Geschichten darüber, wie unser Alltag und unsere Welt vom Kolonialismus geprägt sind. Im Interview spricht Varatharajah darüber, wie dieser Kolonialismus in Technik und Sprache fortlebt, was in Restitutionsdebatten falsch verstanden wird und wie eine Sprache der Zukunft aussehen kann.
 

Sinthujan Varatharajah, Ihr Buch dreht sich um ein bestimmtes Foto, aber auch um die Fotografie an sich. Wie hat sich die Erzählung daraus entwickelt?

Ich versuche, durch den Blick auf etwas Kleines etwas Größeres zu erklären. Tatsächliche habe ich mich ein bisschen davon entfremdet gefühlt, wie man* in kulturellen und akademischen Diskussionen über koloniale Geschichten schreibt.

Was fehlt Ihnen denn in den Diskursen um postkoloniale Themen?

Eelam-Tamil*innen kommen aus keinem sogenannten Postkolonialismus, denn wir sind in unserer Gegenwart noch immer kolonialisiert. Fragen von Restitution und Wiedergutmachung, die Rückgabe von sterblichen Überresten und Objekten – die stellen wir uns noch nicht. Wir sind noch damit beschäftigt, uns aus der kolonialen Gewalt der Gegenwart zu befreien. Dabei wird uns suggeriert, dass wir in einer Vergangenheit steckengeblieben seien, der die meisten Menschen, die sich jetzt anderen Problemen stellen können, schon entkommen sind.

In Ihrer Arbeit als Geograf*in ist die Gegenwart des Kolonialismus ein durchgehendes Motiv, oder?

Ich arbeite eigentlich nicht mit diesen Konzepten von einer Gegenwart und einer Geschichte. Mir geht es darum, dass die universelle Zeit auch politisch konstruiert ist. Deswegen bin ich Anhänger*in davon, das Konzept von Zeit im Plural zu denken – Zeiten. Wir kommen aus anderen Kalendern und anderen Beziehungen zu Naturen. Erst der europäische Imperialismus hat uns mit Gewalt in eine europäische Zeit gezwungen, in der kapitalistischen Logiken von Lieferketten und anderen Ausbeutungs- und Kontrollmechanismen das Leben aller Lebewesen diktieren. Wochentage wurden nach dem christlichen Kalender universalisiert, um letztlich zum Nine to Five-Rhythmus zu werden. Diese Realität wird oft nicht als politisch verstanden.

Sie hatten schon ein Projekt in der Berlin Biennale 11. Die Arbeit, die sehr der Geografie verpflichtet war, hat die Geografie der Stadt durch die Fluchtbewegungen eines traumatisierten Volkes gelesen. Was macht Ihre Disziplin, die politische Geografie, aus?

Eigentlich ist jede Form von Raumanalyse politisch, und politische Geografie kommt aus der Tradition der sogenannten Humangeografie. Es geht vor allem um eine geographische und räumliche Analyse von Politik. Die Disziplin der Geografie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in alle möglichen Richtungen weiterentwickelt – ob marxistisch, feministisch oder postkolonial. Allgemein betrachtet bin ich kein*e Freund*in von beruflichen und disziplinären Kategorisierungen. Ausbildungen schaffen Expertisen und nicht-Expertisen. Sie geben die Berechtigung, über Dinge auf eine bestimmte autoritäre Art zu reden und andere vom Sprechen auszuschliessen. Das ist ja auch Teil einer imperialen Logik.

In Ihrem Buch stehen viele Begriffe kursiv. Im Nachwort erklären Sie, das seien Begriffe, die von einer Perspektive abhängen, aber eine universelle Bedeutung beanspruchen. Ländernamen sind dabei, aber auch Begriffe, die Orientierung erlauben: Himmelsrichtungen oder Zeitangaben, schließlich der Begriff Orientierung selbst. Sie schreiben in einer Sprache, die Sie ständig markieren müssen, eine Sprache die sich kaum benutzen lässt, ohne in hegemoniale Muster zu verfallen. Wie gehen Sie damit um?

Begriffe, die ich kursiv gesetzt habe, verweisen auf die Relationalität und Relativität, aus der sie entstanden sind, auf bestimmte Geographien, von denen aus sie in die Welt geschleppt wurden. Damit beanspruchen sie mittlerweile eine Gültigkeit und eine Wirklichkeit, die tragischerweise weit über diese Geografien hinausgeht. Heute werden beispielsweise nur noch standardisierte imperiale Vermessungssysteme von Distanzen und Zeiten verwendet, die überall gültig sein sollen. Damit wird suggeriert, dass es ein universelles Weltengefühl und -verständnis gibt. Und genau das ist die Lüge, in die uns die "Moderne" gesperrt hat. Für mich ist das eine Herausforderung, denn man* kann in diesen Logiken, zu denen auch imperiale Sprachsysteme gehören, der Welt nicht gerecht werden. Ich versuche, zu destabilisieren, was als die einzige Realität dargestellt wird. Ich möchte das, was heute so gerade und selbstverständlich geschrieben steht, aus dieser visuellen Selbstverständlichkeit lösen und mit der Kursivierung ins Wanken bringen. Es gibt noch viel mehr Wörter, die ich im Nachhinein kursiv schreiben würde, und vielleicht müsste man* irgendwann fast alle Wörter kursiv schreiben.

 

 

Haben Sie eine utopische Idee, wie Schreiben aussehen könnte?

Die Art, wie wir die Welt erleben und dieses Erleben heute verschriftlichen, hat deutliche Grenzen. Wir können uns ihnen nur schwer entziehen, gerade, wenn man* davon abhängig ist, von Mehrheiten verstanden zu werden. Schreiben Sie anders, verwenden Sie beispielsweise andere Satzzeichen oder gängige Satzzeichen anders, dann wird man* schnell ins vermeintlich Allgemeine und damit Universelle zurückbeordert. Es wird ein einheitliches Schreiben und Sprechen eingefordert. Doch wem genau dient das? Minorisierte Sprecharten und Dialekte werden im gleichen Zug stigmatisiert. Ihre Wertigkeiten werden relativiert, wogegen die eigenen verallgemeinert werden. Heute muss alles von allen verstanden werden, und da liegt der Kern der imperialen Mentalität: Dinge entgegen der Interessen der Lebewesen in ein Verständnis zu rücken, das den Zentren mehr dient als den Peripherien. Eigentlich geht es immer nur um die Personen, die Macht haben, die unbedingt alles verstehen wollen, weil sie das fürchten und als Bedrohung empfinden, was außerhalb des eigenen Verständnis und der eigenen Kontrolle existieren könnte.

Der Titel Ihres Buchs "an alle Orte, die hinter uns liegen" hat eine doppelte Bedeutung: Es klingt die Erinnerung an alle Orte, die hinter uns liegen, mit, aber es scheint auch so, als würden Sie alle Orte apostrophieren.

Das war so intendiert. Auf Tamilisch heißt es übersetzt "in Richtung aller Orte". Diese kleine, aber sehr bedeutsame Abweichung ist für mich wichtig. Je nachdem, in welcher Sprache Sie den Titel lesen und verstehen, ändert es etwas an der Position. Es ist ein bisschen so, als würde man* aneinander vorbeisprechen.

Kehren wir noch einmal zur Fotografie zurück. Wie hängen Fotografie und Imperialismus eigentlich zusammen?

Die Fotografie ist eine technische Errungenschaft aus dem sogenannten 19. Jahrhundert. Sie ist in die Extraktionsgeschichte der Industrialisierung verwickelt, und hing von Rohstoffen ab, die aus den Kolonien geschöpft wurden. Sie hat teil daran, wie Europäer*innen einen Kontrollmechanismus über die Welt und sich selbst hergestellt haben. Ähnlich wie Eisenbahnen und Drucktechniken, wurde sie sehr früh in die Kolonien gebracht, wo sie dann bei der Dokumentation von Welten, aber auch ihrer Zerstörungen geholfen hat. Die Kolonialfotografie wurde außerdem verwendet, um Vorstellungen und Inszenierungen des Fremden festzuhalten und dann zurück in die Kolonialmetropolen zu kommunizieren, um den Kolonialismus als gesamtgesellschaftliches Propagandaprojekt erfolgreich zu machen. Die Fotografie hat gleichzeitig eine Rolle beim Aufbau und der Verwirklichung des Nationalstaats gespielt – sie hat die staatliche Ordnung, die wir heute kennen, erst ermöglicht. Der Staat hat Macht über die verbildlichten Körper bekommen, und dieser Prozess wird bis in die Gegenwart fortgeführt, etwa in der Form von biometrischen Passbildern oder CCTV-Kameras. Die Kamera war demnach nicht nur in der Vergangenheit eine Waffe, sie ist es noch immer. Je nachdem, von wessen Hand sie bedient wird, kann sie unterschiedliche Interessen verfolgen.

Diese Geschichte verknüpfen Sie mit Ihrer Familie. Ende der 1970er kaufte Ihr Vater eine Kamera und begann zu fotografieren. Hat Fotografie auch ein Potenzial zur Selbstermächtigung?

Techniken werden für bestimmte Zwecke und Demografien entwickelt, viele entgleiten irgendwann jedoch der Kontrolle ihrer Entwickler*innen und ihrer eigentlichen Intentionen. Sie fangen damit an, ein Eigenleben zu führen, unabhängig von ihrem Ursprung. Genauso ist das auch mit der Kamera in all ihren Variationen geschehen. Kolonialisierte haben angefangen, neue Bilder zu schaffen und Bildern zu widersprechen, die Europäer*innen für sie, von ihnen und gegen sie geschossen haben. Aber dieser Prozess unterliegt immer der Logik der Techniken, die ihre Geschichten auch in der Aneignung reproduzieren. Das schafft wiederum Machtgefälle, die manchmal anders, manchmal sehr ähnlich weiterleben: Was steht vor und was steht hinter wem, wer wird wann von wem und wie dokumentiert, wie wird das Dokumentierte aufbewahrt. Manchmal geht es wirklich darum, dass die Techniken mit all ihren Logiken vollkommen abgeschafft werden müssen. Oder dass man* sich ihnen aktiv widersetzen muss, sich dem Bild verweigern muss, dass die Technik überkommen werden muss. Die Fotografie hat es geschafft, Verbildlichung notwendig zu machen, um etwas als real und existent zu markieren. Menschen, die staatlich oder gesellschaftlich marginalisiert sind, fühlen sich fast verpflichtet, ihr eigenes Leid zu dokumentieren, um Gerechtigkeit erfahren zu können. Sie fühlen sich gezwungen, die Kamera gegen ihren Körper zu richten, um den Schmerz, der ihnen zugefügt wird, über ihre Augen und Körper hinaus präservieren zu können. Sodass andere, das heißt Fremde und Machthabende, das für sich selbst bezeugen können, was man* den Lippen und Augen der Betroffenen abspricht. Der tamilische Widerstand hatte seit den 1980er-Jahren ein eigenes Mediendepartment, das Menschen mit Kameras an die Front geschickt hat, um die Verbrechen des Staates und den Widerstand zu dokumentieren. 

In Ihrem Buch spielt der Verlust von Bildern eine wichtige Rolle. Wie hängen denn Bilder und der Verlust von Heimat zusammen?

Mich hat die Rolle meines Vater als Dokumentar lange berührt. Er selbst war zwar auf wenigen Bildern zu sehen, gleichzeitig war aber seine Handschrift auf allen Bildern. Seine Obsession zu dokumentieren hat uns eine vermeintliche Stabilität der Erinnerungen gegeben, und das vor allem im Asyl. Es gab aber einen Bruch. Wir haben keine Bilder vor dem Asyl, und ich hatte keine Bilder von meinen Eltern, die über eine bestimmte Zeit und bestimmte Körper hinausgehen – das hat mich von meinem mehrheitlich deutschen Umfeld unterschieden, wo es Familienbilder gab, die bis zu den Großeltern zurückgehen. Meine Eltern haben auf der Flucht einen Bildverlust erlebt. Gleichzeitig hat der Staat auch systematisch tamilische Bilder, Geschichten und Erinnerungen zerstört. Mein Vater hat penibel alles eingefangen und uns damit etwas gegeben, was er selbst nicht erlebt hat: eine Chronologie der Bilder. Einen Anfang und ein Ende. Hierzu muss man* verstehen, dass meine Eltern aus einer Zeit und von Orten kamen, wo Kameras rar und den Eliten vorbehalten waren. Als meine Eltern schliesslich eine Kamera hatten, sind die wenigen und zeitversetzten Bilder, die daraus entstanden sind, durch Völkermord und Flucht verloren gegangen. 2009, als der letzte Völkermord stattfand, in dem Zehntausende Eelam-Tamil*innen vom sri-lankischen Staat ermordet wurden, sind die Menschen von den westlichen an die östlichen Küsten geflohen, weil die sri-lankische Armee vorgerückt ist. Dabei mussten sie Stück für Stück ihre Habseligkeiten zurücklassen, um dem unaufhaltsamen Morden zu entkommen. Am Strand, wo hunderttausende Tamil*innen plötzlich zwischen der Unendlichkeit des Wassers und der Gewalt des kolonialen Staates eingekesselt waren, blieben am Ende neben den Skeletten der hunderttausend Toten, Schuhen und Kleider sehr viele, mittlerweile vergilbte Fotoalben liegen. Daran erkennt man* die Wichtigkeit der Bilder.

Ihr Vater ist vor Ihrer Mutter nach Deutschland gekommen, die dann aber bei der Flucht die Fotos dagelassen hat. Ist der Bilderverlust Teil Ihrer Herkunftsgeschichte?

Als ich bei der Frankfurter Buchmesse auf dem Blauen Sofa saß, wurde ich gefragt, ob mein Buch erklärt, woher ich bin – interessant, wie mein Schreiben verstanden wird. Ich weiß, woher ich bin, das steht für mich nicht zur Debatte. Ich erkläre das nicht. Es ist eher so: Ich erkläre, wie wir auf und in Bilder kamen, wie wir Bilder geschossen und verloren haben, und was sie für uns bedeutet haben. Es ist die Geschichte der Reduktion von Welten.

 


Es geht gar nicht um Herkunft?

Wenn, dann geht es um unser aller Herkünfte. Um die Kategorie Menschen und die Habitate, die sie gebaut und zerstört haben. Indem ich über unsere Habitate schreibe, schreibe ich zwangsläufig auch darüber, wie sich andere Habitate in unsere gezwängt haben, welche Gräben Welten in anderen hinterlassen haben. Im Buch arbeite ich viel mit Sekundärliteratur und füge Geschichten in eine Sinnreihenfolge, die noch nicht überall auf diese Art verstanden werden. Das erlaubt mir, unsere Geschichten in ein Narrativ einzubetten, das über die Grenzen dieser Insel und die Erzählungen der Nationalstaaten hinausgeht. Aber viele Menschen, vor allem Journalist*innen, lesen eher leichtfertig, und wenn, dann bis zum Teil über die Kamera oder den Zoo, und denken sich: Kenne ich schon. Es sind ja auch bekannte Motive. Sie setzen sich nicht mit den Nuancen der Erzählungen auseinander; wieviele Geschichten in einem Motiv stecken können, wie jeder Körper die gleichen Geschichten anders erzählt. Sie lesen mit dem Gefühl, unbedingt etwas Neues lernen und konsumieren zu wollen. Sie wollen unterhalten werden. Es geht weniger darum, dass sie neu fühlen lernen wollen. Für mich geht es um das Gefühl, nicht um den Konsum. Mein Anspruch ist es nicht, neue Geschichten zu erzählen, ich möchte alte Geschichten immer wieder neu erzählen. Mein Fokus ist zum Beispiel nicht die Frage der menschlichen Zoos, mit denen sich viele koloniale Debatten befassen. Ich frage mich eher, warum wir Leben zwischen Mensch und Tier unterscheiden, bestimmte Hierarchien länger aufrechterhalten als andere. Ich möchte Naturen betrachten und verstehen, was – mehrheitlich – europäische Menschen mit der Welt gemacht haben, welche Massengräber sie wo hinterlassen haben. 

Bei der Lektüre habe ich ehrlich gesagt auf ein Kapitel zu den menschlichen Zoos gewartet, aber es kam nicht.

Das Thema ist so offensichtlich schrecklich, dass es zumindest in der kritischen Aufarbeitung der Ausbeutungen von nicht-europäischen Menschen populär geworden ist. Viele Arbeiten handeln von der Dehumanisierung anderer Menschen, aber ich möchte die Inhumanität gegenüber allen Lebewesen ins Zentrum der Debatte stellen. Darin liegt auch der Kern der Ausbeutung anderer Menschen, in der Schaffung und Verwaltung der europäischen Kategorie Mensch. Allgemein ist das Problem doch, dass es überhaupt Ausstellungsformate gibt, in denen Welten dargestellt und festgehalten werden. Diese Art von Archivierungspraxis wird in Länder exportiert, in denen das nie Teil der eigenen Geschichte und des eigenen Weltenverständnis war. Neue Museen werden heute zum Beispiel in Dakar oder in Kairo gebaut, in den ehemaligen Kolonien. Genau da liegt das Problem: Das ist nicht der Umgang, dem wir nacheifern sollten. Wir sollten nicht versuchen, bestimmte Dinge dem Zeit-Raum-Rhythmus zu entziehen.

Aber in Restitutionsdebatten ist der Verbleib von Objekten in den Herkunftsgesellschaften doch ein empfindlicher Punkt.

Das Problem ist ja, dass diese Verhandlungen von Staaten geführt werden, die aus imperialen und kolonialen Eingriffen entstanden sind. Sie agieren genauso wie europäische Nationalstaaten, die Gebiete fremdverwalten. In der Restitutionsdebatte mit Namibia sind zum Beispiel die überlebenden Ovaherero und Nama nicht zentral inkludiert. Was mit den Geldern und den sterblichen Überresten ihrer Familien passiert, entscheidet die Regierung in Windhoek, nicht die Betroffenen. Die Menschen werden immer noch fremdbestimmt, aber oft nicht mehr von Weißen. Wir vergessen, dass sich Machtgefälle nicht nur auf eine Art ausdrücken, und dass es nicht nur eine Form der Unterdrückung gibt. Schauen Sie sich den neuen britischen Premierminister, Rishi Sunak, an. Er kommt aus einer Elite, die schon im Kolonialsystem ein Puffer zwischen den Unterdrücktesten und den Unterdrücker*innen war. Elitendebatten werden aber so reduktiv geführt, dass wir dabei landen, dass Gewalt nur von einem Ort und einem Körper ausgeht. Was mich interessiert, ist, wie wir es geschafft haben, unsere Augen dem zu enttrainieren und Welten in singuläre Erzählungen zu pressen.

Ihr Buch dreht sich um autobiografische Passagen, aus denen Sie eine ganze Welt entfalten. Sehen Sie die Gefahr, dabei eigentlich enzyklopädisch vorzugehen, ein Wissenskompendium aufzustellen und sich in diese totalisierende, koloniale Tradition zu stellen?

Ach, das Unterfangen, solche Bücher zu schreiben kann man* schon kritisieren. Welche Materialien werden verwendet, welche Teile der Erde müssen dafür weichen? Ich habe nicht den Anspruch, mich komplett davon zu lösen. Das ist auch nur sehr schwer möglich, weil ja die industriell-kapitalistische Logik mittlerweile vom Boden bis zum Himmel dieses Planeten komplett alles für sich beansprucht. Ich schreibe in einem deutschen Publikumsverlag, ich erzähle auf Deutsch, und ich benutze Autor*innen als Referenz, die oftmals Europäer*innen sind. Das Ziel ist aber vielleicht schon, komplett anders zu erzählen, anders zu schreiben, Richtungen wechseln, die Alphabete in ein anderes Ordnungsverhältnis zu bringen. Ich schreibe nicht unbedingt für ein deutsches Publikum. Eigentlich ist meine Arbeit dezidiert auf eelam-tamilische Geschichten und Leser*innen fokussiert – ohne dass das der einzige Fokus ist. Alle, die mitlesen wollen, können mitlesen und mitfühlen. Ich erkläre das aber nicht für dieses Publikum, sondern eher für mich selbst und Lebewesen wie mich. Ich selbst habe durch die Recherche viel gelernt, weil mich das Schreiben des Buches auch in meinem eigenen Weltenverständnis und Beziehungen zu Naturen herausgefordert hat. Ich hatte Gelegenheit mich in Dinge einzuarbeiten, die mich eh interessiert haben, zum Beispiel die europäische Försterei; was es überhaupt heißt, Bäume zu kontrollieren, sie zu entführen, zu züchten, Monokulturen und Plantagen zu errichten und damit das Land und seine Karten zu verändern.

Vielleicht können Sie als nächstes ein Buch über Wald und Försterei schreiben.

Die Marktökonomie verlangt aber etwas anderes. Als ich damals die Anfrage für dieses Buch bekommen habe, hieß es erstmal, ich solle etwas über den deutschen Kolonialismus schreiben. Ich habe gesagt, dass ich nicht über den deutschen Kolonialismus schreiben kann, sondern nur über koloniale Systematiken, die eben nicht singulär nationalstaatlich sind.