Kunstmesse Artissima in Turin

Produktiv auf ungesichertem Terrain

Die Artissima in Turin ragt unter den Kunstmessen heraus: Als ein städtisches Unternehmen bietet sie die Chance zum Experiment. Sammlerinnen und Sammler machen noch wirkliche Entdeckungen. Ein Rundgang

Die 29. Artissima findet zum ersten Mal seit der Pandemie wieder statt, und sie hat einen neuen Direktor. Luigi Fassi hatte der Turiner Messe in der Vergangenheit bereits als Kurator zugearbeitet. Diese Rolle des Messe-Kurators wird hier besonders wichtig genommen, denn die Artissima gilt traditionell als Ort der Entdeckungen. Das heißt, statt gefälliger Ware, von der man einen Verkaufs-Garant vermutet, gibt es hier eine programmatische Auswahl und das Versprechen, auch dann von Neuem überrascht zu werden, wenn man schon alles zu kennen glaubt.

Die Qualität ist hoch, hier wird eher auf konzentriertes Schauen Wert gelegt als auf visuelle Überbietung um Aufmerksamkeit. Isabella Bortolzzi aus Berlin zeigt an ihrem Stand großformatige Zeichnungen von Hannah Quinlan und Rosie Hastings, Straßenszenen mit starken, dominanten, fast ein wenig einschüchternden Frauenfiguren. Die aus diesen Zeichnungen entstandenen Gemälde sind gerade in der Tate zu sehen.

Deborah Schamoni zeigt zwei Positionen aus ihrem Programm – Dala Nasser aus Libanon, die delikate Frottagen auf leichten Stoffen macht. Sie nimmt die Oberflächen von Gebäuden in Beirut ab, die zarten Textilien werden danach verstärkt und hängen mit sowohl skulpturaler als auch malerischer Qualität an der Wand. Davide Stucchi hat seine getragenen Jeans fragmentiert – hier eine Knopfleiste, da eine Naht mit Tasche als zarte hellblaue Wandobjekte.

Bei Mazzoleni aus Turin (mit Dependance in London) ist der Stand ganz Marinella Senatore gewidmet, deren optimistische Neon-Botschaften ("Dance first think later") der gegenwärtigen Lage trotzen und die viele Besucher anziehen.

Im mittleren Teil der Halle befindet sich eine Zone mit kleineren Ständen, die einzelnen Kapiteln zugeordnet sind: Zeichnung, "Present Future" und "Back to the Future" für Wiederentdeckungen. Gleich zwei in Deutschland arbeitende Kuratorinnen haben hier an je zehn Ständen ein spannendes Programm erarbeitet: Anna Gritz, Direktorin des Berliner Haus am Waldsee, und Maurin Dietrich, Direktorin des Kunstvereins München. Die junge US-Malerin Beaux Mendes fällt bei Weiss aus Berlin gerade mit sehr schweigsamen, kleinformatigen Plein-Air-Gemälden auf, für die sich die Künstlerin nach Deutschland begeben hatte.

Sagg Napoli, eine junge italienische Künstlerin, die sich während der Pandemie von London zurück nach Neapel begeben hat, stellt Zielscheiben für Bogenschützen aus – mit echten Treffer-Löchern und ihren eigenen Kommentaren zu ihren Leistungen. Die sind ganz erstaunlich, denn sie hat so viel trainiert, dass sie im nächsten olympischen Team mitwirken kann. Dass diese Künstlerin auf der Turiner Messe von der Warschauer Galerie Import Export vertreten wird, eingeladen von einer deutschen Kuratorin, ist ein typischer Turiner Zustand: internationale Verbindungslinien, die fast schon freundschaftlich zu nennen sind.

Sehr gut behandelt fühlen sich die Galerien hier, denn die Messe gehört der Stadt und das bedeutet ein nicht ausschließlich profitgetriebenes Ausstellen. Die Artissima ermöglicht niedrige Standmieten, gute Unterbringung und eine insgesamt so gastfreundliche Atmosphäre, dass sich Sammler auch über Italien hinaus hier besonders wohl fühlen. Nur durch diesen strukturellen Rückhalt kann hier auch so ergiebig experimentiert, so produktiv auf ungesichertem Terrain agiert werden. Ein kultureller Mehrwert, den die Stadt mitproduziert und von dem sie zugleich profitiert. Als hätte die Künstlerin Marinella Senatore den Claim dazu bereits in Leuchtstoffröhren verewigt: "We rise by lifting others."

Über die Messe hat Monopol-Redakteurin Silke Hohmann auch mit Detektor FM gesprochen. Sie können das Gespräch hier nachhören: