Die Feld-Ulme im New Yorker Central Park hat im Laufe ihres langen Lebens aus ihrem Rumpf einen Zwilling geboren. Aus dem Stamm der Roteiche, ein paar Hundert Meter weiter, wuchert auf Augenhöhe ein Gebilde, das aussieht wie ein überdimensionales aber gutartiges Geschwür. In das aufgeplatzte Innere der amerikanischen Platane in Louisville hat man eine kleine Mauer gebaut, damit der alte Baum sich aufrecht halten kann. Und die Ritzungen in der Rinde der Buche in Washington DC erzählen die Geschichten von Hunderten zärtlicher Begegnungen unter dem Schatten ihrer Äste.
Wir sitzen im Studio des New Yorker Fotografen Stanley Greenberg in einem Industrieloft nahe des Gowanuskanals, der gelbbraun und stinkend das südliche Brooklyn durchzieht. Greenberg blättert durch die Schwarzweiß-Drucke zu seinem neuen Band "Olmsted Trees", druckfrisch aus dem Hirmer Verlag in München geliefert. "Ich habe mit jedem Baum Zeit verbracht, bin um ihn herum gelaufen und habe mich gefragt, was er mir sagen will", sagt der drahtige Mitfünfziger.
So fühlen sich die rund 80 Aufnahmen aus dem Band auch an wie Porträs von überwältigender Intimität, Ergebnisse eines intensiven Dialogs zwischen Fotograf und Subjekt. Immer ist der Betrachter auf "Augenhöhe" mit dem Baum, mit seinen ausdrucksvollen Strukturen und Formen, die ihm Charakter und Persönlichkeit verleihen. Die Krone ist dabei nicht zu sehen, man begegnet den Bäumen wie jeder Spaziergänger. Der Blick ist angefüllt mit dem Stamm und seiner unmittelbaren Umgebung – einem Flecken Gras, einem Zaun, etwas welkem Laub, einem Gehweg.
Nur ein Kriterium für die Auswahl der Bäume
Greenberg hat diese Bäume in den Jahren der Covid-Pandemie in Parks im gesamten Osten Nordamerikas besucht. Er hat im Prospect Park von Brooklyn vor seiner Haustür angefangen und ist bis nach Chicago und Montreal gekommen. Das Kriterium für die Auswahl der Bäume war simpel: Sie mussten von Frederick Law Olmsted gepflanzt worden sein.
Der Landschaftsarchitekt Olmsted ist wohl am besten dafür bekannt, dass er zwischen 1858 und 1872 den New Yorker Central Park geplant und angelegt hat, den Bürgergarten im Zentrum der lärmenden und überfüllten Weltmetropole, in dem sich Menschen aller Schichten und ethnischen Hintergründe unbefangen begegnen konnten. Der Central Park gilt als großer Wurf der New Yorker Stadtplanung, im Gegensatz zu fast allem anderen in dieser Stadt wird er einstimmig von ihren Bürgern geliebt.
Das Wirken von Olmsted reichte jedoch weit über New York hinaus. Im großen Zeitalter der Urbanisierung hat er Parks in Dutzenden amerikanischer Städte angelegt. Alleine durch ihn haben sie, beinahe sämtlich Kinder des Industriezeitalters, eine menschliche Qualität erhalten.
Olmsted dachte in die Zukunft
Das Verhältnis von Stanley Greenberg zu den Parks von Olmsted ist persönlich und lebenslang. Greenberg ist in Brooklyn aufgewachsen, beinahe jedes Wochenende war er mit seinen Eltern im Prospect Park, dem zweiten großen Bürgergarten Olmsteds in New York. In den Sommerferien nahm er hier Kurse, bei denen er Baum- und Vogelarten identifizieren lernte. Jetzt, als Erwachsener, ist er noch immer beinahe jeden Tag im Park, zum Joggen und zum Fahrradfahren und mehrmals in der Woche im Morgengrauen, um mit dem Fernglas Vögel zu beobachten.
Die Idee zu einem Fotoprojekt zu den Bäumen von Olmsted reifte für Greenberg jedoch erst, als er in den vergangenen Jahren begann, sich näher mit dem Mann und seinem Lebenswerk zu beschäftigen. Besonders tief hatte sich dabei für Stanley Greenberg Olmsteds Credo eingebrannt, dass er seine Parks in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht für die damalige Zeit angelegt hatte. Olmsted dachte in die Zukunft, ihre volle Wirkung sollten seine sorgsam durchgestalteten Anlagen erst 100 Jahre später entfalten.
So suchte sich Greenberg nach alten Plänen und langen Gesprächen mit Landschaftsgärtnern mühsam die Bäume zusammen, die Olmsted vor 150 Jahren einzeln und persönlich ausgesucht hatte. Sie wollte er kennenlernen und porträtieren, wie um Olmsted zu berichten, was aus ihnen geworden ist.
Eine persönliche Danksagung
Das Ergebnis ist ein Essay über Bäume und Parks, sicher, über Natur und die Stadt, aber auch darüber, wie wir Beziehungen zu Dingen und Orten entwickeln, wie sie uns vertraut werden und wie wir mit ihnen wachsen und altern. Und es ist eine persönliche Danksagung Greenbergs an Frederic Olmsted für das Geschenk dieser Bäume und die Parks die er geschaffen hat.
Das Buch passt trefflich in das Werk von Greenberg, der seit Jahren die Stadt fotografisch von den Rändern her denkt. Von Dingen, welche für die Stadt wesentlich sind, aber meistens übersehen werden. So hat er einen viel beachteten Band über die Wasserinfrastruktur on New York vorgelegt, über die Dämme und Stauseen, die Tunnel und die Wassertürme. Einige der Bilder hängen im New Yorker Metropolitan Museum. Darauf folgte eine Reihe über Frischwasserquellen, die mitten in der Metropole aus dem Boden sprießen.
Auch sie hat Greenberg bei seinen endlosen Spaziergängen durch seine Heimatstadt aufgesucht und gefunden. Und auch sie hat er wie die Bäume zum Sprechen gebracht.