Kunsttriennale Bergen Assembly

Komm mit in meine freie Welt

Der Künstler Saâdane Afif hat mit seiner Ausgabe der norwegischen Triennale Bergen Assembly einen begehbaren Roman geschaffen. Er führt vor, wie unterhaltsam und frei Kunst heute sein kann

Yasmin d'O. ist einfach nicht zu fassen. Bei der Eröffnung der vierten Ausgabe der Bergen Assembly hätte sie sich als deren Kuratorin doch zumindest blicken lassen können. Während ihr Stellvertreter, der Berliner Künstler Saâdane Afif, bei seiner Rede Ausschau nach seiner ominösen Chefin hält, ruft jemand aus dem Publikum, Yasmin d'O. sei gerade auf dem Bahnhof Bergens gesichtet worden, sie sei in einen Zug gestiegen. Adieu! Ser deg igjen! Was uns nun bleibt, ist ihre Bergen Assembly, eine Kunstausstellung mit dem Titel "Yasmine and the Seven Faces of the Heptahedron", die sich über die gesamte norwegische Stadt verteilt.

Und diese Ausstellung wiederum folgt einer anderen Yasmine, eine fiktive Figur auf der Suche nach einer geheimnisvollen Form, einem siebenseitigen festen Körper namens Heptaeder. Ihre Suche wird von sieben rätselhaften Figuren begleitet, denen sie auf ihrem Weg begegnet: dem Professor, dem Bonimenteur, dem Mopedfahrer, dem Wahrsager, einem Akrobaten, dem Kohlenmann und dem Touristen. Diesen sieben Figuren sind sieben Ausstellungsorte zugeordnet, mit insgesamt 20 historischen und zeitgenössischen Positionen.

So narrativ, ja, versponnen sind wenige Ausstellungen im internationalen Biennale-Triennale-Quadriennale-Kreislauf, wo Diskurs mehr zählt als Unterhaltung, die richtigen Namen mehr als Überraschungen. Saâdane Afif aber ist bekannt für großangelegte Bögen in seinem Werk, wo eine Idee, eine Figur, ein Ort wandert und sich wandelt von einem Medium in das nächste: Was als Song startet, kann Ausstellung werden, kann später nochmal die Gestalt von Plakat oder Gedichtband annehmen, um als Konzert oder Vase zu enden. So auch Yasmin d'O., die offenbar einer Ausstellung Afifs in seiner Berliner Galerie entsprungen ist, mit der der französische Künstler sich vor Yasmine d’Ouezzan verneigte, die 1932 erste Billardmeisterin Frankreichs wurde. Oder geht es noch weiter zurück, zur Marrakech Biennale 2014, in der Afif ebenfalls Yasmine d’Ouezzan auftreten ließ?

Performativer Schub

Wenn Künstler oder Künstlerinnen Gruppenausstellungen kuratieren, kann es passieren, dass sie ihre eingeladenen Kolleginnen oder Kollegen erdrücken mit eigenen Konzepten, sie in ihr Oeuvre einverleiben, als wären sie künstlerisches Material. Saâdane Afifs ausschweifende Rahmenerzählung aber hat die genau gegenteilige Funktion: ihn selbst und sein Künstlerego dahinter verschwinden zu lassen. Man könnte die einbettende Handlung und ihr Personal auch ganz weglassen und sich einfach zu den Ausstellungsorten begeben, Kunst anschauen, die lose mit den Figuren Professor, Mopedfahrer etc, verbunden sind – und würde dennoch eine wundervolle Bergen Assembly sehen. Doch mit dem narrativen Überbau macht es noch mehr Freude.

Da ist zum Beispiel der zum Kohlenmann zugehörige Ausstellungsteil in einem Projektraum in der Peripherie der Stadt. Dort sind in altmodischen Vitrinenschränken aus Steinkohle geschnitzte und polierte Skulpturen zu sehen, fast alle von unbekannten Schöpfern, viele von ihnen offenbar Bergleute. Sie stellen ihre Arbeit dar, ihre Schutzpatronin Barbara, Liebespaare, einmal sogar einen WM-Pokal. Die Ausstellungslabel enthalten wenige Informationen, aber man erfährt, dass all diese Arbeiten aus der Sammlung von Yasmin d'O. stammen. Damit erhält die Präsentation einen fast performativen, auf alle Fälle narrativen Schub, der so einer Ausstellung guttut. Und wenn ein Künstler wie Saâdane Afif diese Skulpturen hier ausstellt, werden sie die dann zu Readymades? 

Überhaupt ist die Bergen Assembly diesmal sehr performativ angelegt, denn es wird hier – wie in Saâdane Afifs Arbeit – nicht strikt zwischen den Gattungen getrennt, auch hier geht eines ins andere über: Miriam Stoney liest aus ihrem neuen Buch (ein Auftragswerk für Bergen, zu dem auch eine Installation zu sehen ist); ein Chor trägt in der Domkirke ein eigens für diesen Anlass geschaffenes Stück des Komponisten Augustin Maurs vor; Dominique Gonzalez-Foerster gibt ein Popkonzert in einem ehemaligen Clubhaus; das Publikum ist eingeladen, eigene Bilder von einer Installation Daniel Burens in den sozialen Medien zu teilen, hat doch der französische Künstler einst einen wegweisenden Essay über die Abbildung von Kunstwerken geschrieben. 

Afifs Konzept der verflüssigten Disziplinen gibt der Bergen Assembly einen Festivalcharakter, der sie äußerst lebendig werden lässt. Und es sind gerade die Veranstaltungsorte, die überraschen, während die Malerei, Skulpturen, Videos und Installationen vor allem in konventionellen Kunsträumen wie Kunsthallen, Museen und Projekträumen zu sehen ist. Dann wieder überlagert die Triennale bestehende Orte. Die von der Künstlerin Sol Calero gestaltete Cantina de la Touriste etwa ist ein Restaurant, das ein bestehendes Café für die Dauer der Bergen Assembly übernommen hat. Die 1991 geborene Künstlerin Jessika Khazrik, die einen erstaunlich euphorischen Begriff von Techno hat, der an Rave-Veteranen wie Wolfgang Tillmans oder Rainald Goetz erinnert, hat in der Innenstadt einen Club gebaut, als Installation und Ort für ihre Videoinstallation, aber auch zum wirklichen Feiern.

Vorbildhaft arbeitet das Kollektiv Denicolai & Provoost mit gleich mehreren Orten der Stadt: Das Duo bat Ladenbesitzer um wunderliche Objekte aus ihren Schaufenstern und stellt sie im Bryggens Museum museal aus: Die Porzellanhündchen, Büsten, Ölschinken, das Modellbauschiff, das eiserne Herz und der goldene Delfin, sie wirken hier wie Exponate aus einer anderen Zeit, dabei sind sie echte Gegenwartsarchäologie.

Johannes Paul Raether spielt ebenfalls mit der Stadt – und sprengt dann doch Zeit und Raum. Der deutsche Künstler läuft in Gestalt der von ihn genährten Figuren mit Besuchergruppen an öffentliche und private Orte, an denen er gegenwartsdiagnostische Science Fiction betreibt: als High-Tech-Medusa namens Schwarmwesen durchbricht er die langweilige Idylle in dem von Touristen überlaufenden historischen Hanseviertel Bryggen, als Avatar Protektorama erklimmt er die umliegenden Berge, als gütige Hexe Transformella spricht mit seinen Begleitern und Begleiterinnen im Ikea-Warenhaus (vom skandinavischen Möbelgiganten übrigens uneingeladen) über die Idee von Familie und wie sie sich im Wohndesign wiederfindet und geformt wird.  

Auch wenn die Bergen Assembly eine starke Narration in sich trägt, diskursiv wird es hier ohnehin dauernd, denn die sieben fiktiven Figuren rufen Themenfelder auf, die einiges an Sprengkraft bereithalten. Während der aktuellen Energiekrise und vor dem Hintergrund des auf Öl basierenden Wohlstands Norwegens löst etwa der Blick auf den Kohlenmann einiges an Überlegungen zu unserem Umgang mit fossilen Energieträgern aus.

Schwach ist die Ausstellung nur an den wenigen Stellen, an denen Diskurs vor dem eigentlichen Erleben steht, etwa wenn an Schautafeln gerade ins Konzept passende Hintergründe zu Georg Grosz oder Claude Debussy demonstriert werden. Dafür gibt es doch die sieben Ausgaben der fantastischen Begleitpublikation "Side Magazine" mit Querverbindungen zwischen den Themen, Seitenblicken, Anekdoten und wirklich lesenswerten Essays. 

Auch das "Side Magazine" ist ein Beispiel dafür, wie vielgestaltig eine Ausstellung heute sein kann, wie unterhaltsam, humorvoll, leicht und gleichzeitig intellektuell. Saâdane Afif hat mit seiner Bergen Assembly einen begehbaren Roman geschaffen, sein Titel klingt wie der eines Harry-Potter-Buchs, doch er ist voll von Gegenwart und echtem Leben. Der Heptaeder, das siebenseitige Objekt, nach dem Yasmin suchte, ist vielleicht die Bergen Assembly selbst mit ihren sieben Teilen. Eine echte Rarität!