Als 2011 der Fotoband "Chromes" des legendären US-Fotografen William Eggleston erschien, war das eine Sensation. Die Reproduktionsqualität der Bilder und die Ausstattung der drei großformatigen, leinengebundenen Bände waren einzigartig. Selbst Fotobuchsammler, die bereits etliche Eggleston-Bücher aus verschiedenen Dekaden, von unterschiedlichen Verlagen im Schrank stehen hatten, waren überrascht, was hier von den Herausgebern und dem Verleger Gerhard Steidl und seinem Team vollbracht worden war: nichts weniger als ein Opus magnum.
Gewöhnlich sind es große Ausstellungen, die das Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin auf eine neue Ebene der Rezeption und Wertschätzung heben. Der begleitende Katalog indes verschwindet nicht selten ungelesen im Regal und wird vielleicht irgendwann in einem Anflug von Sentimentalität noch mal hervorgeholt. Im Fall des eigenwilligen, wunderbar kauzigen Fotografen aus Memphis, Tennessee, verhielt es sich einst umgekehrt: Egglestons erste große Ausstellung, 1976 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York ausgerichtet, wurde verrissen. Sie war für das MoMA eine der ersten Shows mit Farbfotografien – die damals als "nicht künstlerisch" galten. Noch dazu zeigten Egglestons Aufnahmen denkbar banale Dinge: einen rostigen Öltank, eine zerknitterte Zeitung, herumliegende Plastikflaschen auf einer Brache. Müll! In Farbe! Der Kritiker Hilton Kramer machte sich in der "New York Times" süffisant über die Ausstellung lustig und watschte gleich noch den Kurator John Szarkowski ab.
Begleitend aber war "William Eggleston's Guide" erschienen: ein Buch mit 48 Fotos, die Szarkowski aus einem Konvolut von rund 5000 Bildern der Jahre 1969 bis 1974 selektiert hatte – und das wiederum die Basis der 344 Aufnahmen in Chromes bildet. Der "Guide" indes begann in den folgenden Jahren für Eggleston zu arbeiten und begründete seinen Ruhm. Ganze 26 Jahre später legte das MoMA den alten Katalog aus den 1970er-Jahren in einer faksimilierten Ausgabe neu auf. Da war Eggleston längst akzeptiert, Regisseure wie David Lynch und Wim Wenders sind deutlich von Egglestons Bildern leerer Straßen und dunkler Interieurs beeinflusst, internationale Ausstellungen häuften sich, Musiker und Bands wie Alex Chilton und "Radio City" machten Eggleston-Fotos zu Covermotiven ihrer Tonträger.
Zwischen Traumszenen und der echten Welt
2005 drehte der US-Regisseur Michael Almereyda den fast anderthalb stündigen Dokumentarfilm "William Eggleston in the Real World" – man sieht da, wie der alte Fotograf mit seiner großen Kamera nach Einbruch der Dunkelheit vor dem Schaufenster eines Möbelgeschäfts hantiert. Wie er ziemlich angesäuselt über Traumbilder und ihr Verschwinden nach dem Aufwachen philosophiert. Wie er rauchend dem Crooner Roy Orbison lauscht – dessen Song "In the Real World" gab der Doku den Titel. Aber ist das, was uns Eggleston zeigt, wirklich die "echte Welt"?
Zwar sind seine Motive meist Alltagsobjekte: Autos, Dreiräder, Gartenzäune, Glühbirnen. Und die Kinder, die Alten, die tätowierten Gestrandeten und die sommersprossigen Teenager sehen wir in fast schon irritierend beiläufigen Momenten. Doch besitzen Egglestons beste Fotografien die flüchtige Präsenz von Traumszenen. Sicher nicht zufällig zeigt das erste Bild in Band 1 von "Chromes" Eggleston schlafend, mit geschlossenen Augen. Und im letzten Bild in Band 3 – es stammt aus derselben Session – hat er, kaum aufgewacht, gerade die Augen geöffnet. Alles dazwischen, so die naheliegende Deutungsmöglichkeit: ein Traum. Dass das lange vergriffene "Chromes" mit seinen scheinbaren Film-Stills und Tatortbildern nun wieder erhältlich ist – auch dies ist ein dream come true.
Der Schuber der Neuauflage ist ein wenig kräftiger und höher geraten als der alte, das Vorsatzpapier wurde den Einbandfarben der drei Bände angepasst, ihre Rücken sind nun flach. Das neue Papier dagegen wölbt sich beim Aufschlagen etwas stärker – bei der 2011er-Auflage liegt es nach dem Umblättern überraschend schnell plan, so dass jedes Bild-Paar sofort seine suggestive Kraft entfalten kann. Überhaupt ziehen die (unveränderten) Motiv-Gegenüberstellungen in "Chromes" in ihren Bann: Hier treffen leere Parkplätze auf Close-ups in einem Supermarkt, ein nächtlicher Busch wird im Blitzlicht zum grellen Feuerwerk – daneben: ein Mädchen, stehend, schweigend, mit abwesendem Blick. Am besten man nimmt sich wirklich Zeit für diese Bilder, wäscht erst einmal die Hände, wischt einen ausreichend großen Tisch gründlich ab, sorgt für gutes Licht, legt vielleicht sogar das kuriose Album "Musik" auf den Plattenteller, das vor fünf Jahren mit von Eggleston wie in Trance eingespielten Stücken erschienen ist – und beginnt zu blättern, zu träumen.