Ein bärtiger Mann, mit lose geknotetem Halstuch und einem Hut mit breiter Krempe, die rechte Gesichtshälfte im Schatten: Eine Skizze sorgt in der Kunstwelt für Aufregung. Denn bei dem Herrn, der da so durchdringend auf die Betrachter blickt, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Vincent van Gogh (1853-1890) - der weltberühmte niederländische Maler hat sich vermutlich selbst gezeichnet. "Ja, Ihr habt richtig gelesen", jubelte die Schottische Nationalgalerie in einer Mitteilung vom Donnerstag. "Wir haben mit ziemlicher Sicherheit ein bisher unbekanntes Selbstporträt von Vincent van Gogh entdeckt."
Die Zeichnung kam zutage, als das van-Gogh-Gemälde "Kopf einer Bäuerin mit weißer Haube" (1885) zur Vorbereitung einer Ausstellung in Edinburgh mit Röntgenstrahlen untersucht wurde. Diese Behandlung sei reine Routine, betonte das Museum. "Der Fund war eine völlige Überraschung."
Das Selbstporträt befindet sich auf der Rückseite der Leinwand. Es sei mit mehreren Schichten Leim und Pappe überklebt gewesen, die vermutlich gegen 1905 wegen einer Ausstellung angebracht wurden. Dass van Gogh immer wieder die Rückseite von Gemälden für neue Skizzen und Bilder nutzte, ist bekannt - der Künstler hatte oft wenig Geld und musste sparen. "Deshalb tauchen immer mal wieder Bilder auf, darunter auch Selbstbildnisse", sagte der Kölner Kunsthistoriker und Journalist Stefan Koldehoff der Deutschen Presse-Agentur.
Das linke Ohr, das sich der Maler 1888 abschnitt, ist deutlich zu sehen. Die Zeichnung muss also vorher entstanden sein. Vermutlich handele es sich um ein frühes Werk und einen der ersten Versuche eines Selbstgemäldes, hieß es vom Museum. Zu 100 Prozent will sich die Nationalgalerie nicht festlegen, dass es sich um einen echten van Gogh handelt. Zwar seien bei der Untersuchung internationale Experten zurate gezogen worden. Aber: "Wir können derzeit nur mit dem Röntgenbild arbeiten. Wir hoffen, dass wir vollkommen sicher sein können, wenn es uns gelingt, den Leim und die Pappe zu entfernen, um das Selbstporträt zu enthüllen." Diese Arbeit dürfte schwierig werden - nicht, dass das Gemälde auf der anderen Seite Schaden nimmt.
Der Niederländer war nicht der einzige Maler, der auch den Rücken der Leinwand nutzte. Auch Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), zentrale Figur der Künstlergruppe "Brücke", arbeitete oft so. Die Hinterseite zu präsentieren, kommt allerdings bei Kritikern nicht immer gut an. Sie verweisen darauf, die Praxis verstoße offensichtlich gegen den Willen des Künstlers. Wissenschaftlich aber gelten gerade solche Skizzen und verworfenen Arbeiten als besonders aufschlussreich.
Auch in diesem Fall hoffen Kunsthistoriker auf Hinweise. Van Gogh sei vor allem in seinen Pariser Jahren von 1886 bis 1888 sehr experimentierfreudig gewesen, sagte van-Gogh-Biograf Koldehoff. Anders als oft dargestellt, sei er beileibe kein einsamer Wolf gewesen, sondern habe sich in der französischen Hauptstadt mit Impressionisten wie Camille Pissarro oder Henri de Toulouse-Lautrec angefreundet. "Seine Bilder wurden selbst impressionistischer, heller, farbiger", sagte der Experte. "Wenn dieses mögliche Selbstbildnis, das wir ja bislang nur als schlechtes Schwarz-Weiß-Röntgenbild kennen, aus dieser Zeit stammt, könnte es auch zeigen, wie van Gogh dazulernte. Das ist aber so lange Spekulation, wie wir das Bild nicht im Original und in Farbe sehen."
Schon von Ende Juli an soll die Entdeckung der Öffentlichkeit präsentiert werden. Besuchern will die Galerie mithilfe einer speziell angefertigten Lichtbox einen Blick auf die Skizze ermöglichen. Kuratorin Frances Fowle ist begeistert. Es handele sich um ein einzigartiges Geschenk für die Kulturszene in Schottland.