Der Mythos beginnt mit der Reise. Wer ins südfranzösische Barjac pilgert, wo seit diesem Sommer die Atelier-Stätten des 1945 in Donaueschingen geborenen Jahrhundertkünstlers Anselm Kiefer besucht werden können, der wird mindestens eine Stunde vor und nach seinem Besuch über eine kurvenreiche Landstraße fahren, die sich auch durch eine der großformatigen Mythenlandschaften aus Öl und Blei schlängeln könnte. Und bekommt so auch viel Zeit zum Nachdenken über jenes Gesamtkunstwerk geschenkt, an dem Kiefer hier seit fast 30 Jahren arbeitet – und das auch heute immer noch Ergänzungen erfährt.
Das 35 Hektar umfassende Areal einer ehemalige Seidenfabrik beherbergt heute mehr als 52 einzelne Gebäude und ein komplexes System aus Tunneln und Brücken – alles ist verbunden in diesem Kosmos, der mit seinen provisorisch anmutenden Wellblech-Pavillons und Kunststoffdächern, die der südfranzösische Mistral zum Pfeifen bringt, durchaus an eine archäologische Grabungsstätte erinnert. Gegraben wird hier vom Künstler selbst, gehoben sein eigener Schatz, sein eigener Mythos.
Wo Mythen gefeiert werden, da gibt es auch ein Amphitheater. Kiefer hat monolithisch anmutende Betonblöcke aufeinander gestapelt, sodass ein komplexes Raumgebilde mit vier Galerie-Ebenen und einer an ein griechisches Theater erinnernden Bühnenfläche entsteht.
Eine unterirdische Welt
In den dunkleren Kabinetten hängen Spulen mit mehreren tausend Fotografien, auf den Galerien stehen vereinzelt seine "Frauen der Antike", im Zentrum ist ein immenser Flugzeugträger aus Blei vor Anker gegangen. Dieses Kiefer-Theater bildet den Ausgangspunkt der rund dreistündigen privaten Führung, die seit diesem Sommer in Barjac gebucht werden kann. Beim Durchschreiten des Theaters geht es über Treppen hinunter und wieder herauf, der Bezug zur Außenwelt, zum oben und unten verschwindet allmählich - ein mythologischer Raum voller Geschichten eröffnet sich, der nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu funktionieren scheint.
Durch einen kühlen Tunnel, in den sich ein paar kreischende Vögel und scheuer Fuchs verirrt haben, erreicht man die so genannte Krypta, eine wie aus dem Berg gemeißelt erscheinende Höhlenwelt, die einen unweigerlich an die Höhle von Lascaux denken lässt. Kiefer selbst versteht diese Höhlenwelt als erweiterte Skulptur: An ihrem tiefsten Punkt hat sich eine Wasserlache gebildet, in der er seine großen Bücher aus Blei zu einem Turm aufeinandergeschichtet hat. Durch das abschüssige Terrain und beim Blick durchs Halbdunkel nach oben an die Höhlendecke entsteht der Eindruck, man könne hier unten jederzeit von der Welt begraben werden.
Aber dafür gibt es noch zu viel zu entdecken, im Berg von La Ribaute: Durch einen weiteren Höhlengang erreicht man einen sargförmig zugeschnittenen und ebenfalls abschüssigen Raum, der spürbar kälter als die bisherigen Höhlenräume ist und süßlich riecht. Es ist ein von Wolfgang Laib geschaffener Raum aus Bienenwachs – in dieser Sibyllen-Höhle, so wird erklärt, wird die Zukunft vorhergesagt. Das Innere des Bergs wird also zu einer Zeitmaschine, die uns von der griechischen Antike in die Höhlenzeit in eine unbestimmte Zukunft reisen lässt.
Neben Laibs Intervention sind auf dem Areal auch Arbeiten von Valie Export und Laurie Anderson zu sehen, die Kiefer als Freunde nach Barjac eingeladen hat. Zu Kiefers Freunden gehören auch Schriftsteller wie Ferdinand von Schirach oder der Filmemacher Alexander Kluge, dessen intellektuell anregender Besuch in Barjac auf YouTube nachgesehen werden kann.
Das Universum Kiefer
Zurück am Tageslicht brennt die Sonne auf eine Abfolge kleiner Gewächshäuser, die einzelne Skulpturen beherbergen. Besonders eindrucksvoll ein lang gestricktes Glashaus in dessen Bruthitze Kiefers "Frauen der Antike" wie zu einem geheimen Reigen verabredet scheinen. Sappho, Circe, Tusnelda, Rapunzel - über jede einzelne von ihnen lässt sich in Interviews mit dem Künstler nachlesen.
Überhaupt ist der Kosmos Kiefers bei aller maskulinen Monumentalität am Weiblichen interessiert. Neben den "Frauen der Antike" sind seine "Frauen der Revolution" zu finden - etwa in Form eines bleiernen Betts, aus dessen feuchten Innern eine Vielzahl von Blei-Schlangen auf den Boden hängen, die an Nabelschnüre erinnern. "Frauen sind in meinem Werk omnipräsent. Sie sind uns Männern in vielerlei Hinsicht überlegen", hat Kiefer immer wieder in Interviews betont.
Ein anderes wiederkehrendes Thema in Barjac ist der Krieg. Ob in Form bleierner Kampfflieger und U-Boote in Vitrinen Beuysscher Anmutung oder als Schützengraben-Bildmetapher aus Öl auf den monumentalen meterhohen Leinwänden – der Krieg, die Vernichtung, das Böse sind hier omnipräsent. In einem 26 Meter hohen, vom Guide als Kathedrale bezeichneten Gebäude versinkt man in den streng zweigeteilten Leinwänden, auf denen über grauen, verlassenen Schlachtfeldern ein Firmament mit tausend Sternen prangt. Die acht Meter hohen und sieben Meter breiten Arbeiten haben Barjac noch nie verlassen. Augenblicklich arbeitet Anselm Kiefer an kleinformatigen Aquarellen, erfährt man zum Ende der Führung.
Der Name der Stiftung, die diesen Ort in Zukunft betreiben wird, lautet Eschaton und bezieht sich damit auf die zyklische Natur des Lebens und das Konzept, dass Schöpfung und Wiedergeburt aus Ruinen entstehen und durch Untergang und Zerstörung ermöglicht werden.
Barjac ist Archiv, Atelier, Museum und Grabungsstätte in einem. Hier wurde ein Ort geschaffen, der ein künstlerisches Oeuvre mit tiefsten Vergangenheiten und unbekannten Zukünften verbindet und dazu bestimmt ist, auch über den Tod des Künstlers Anselm Kiefer hinaus zu existieren – oder sein Werk unter sich zu begraben und wieder in dem von ihm ausgehöhlten Massiven zu verschütten, damit es erneut freigelegt werden kann.