Maler Duncan Grant als Dior-Inspiration

Die langen Sommer im Charleston Farmhouse

Die Bloomsbury Group aus Künstlern, Literaten und Intellektuellen um Virginia Woolf markierte einst den Beginn der Moderne in England. Mittendrin: der Maler Duncan Grant. Seine Strahlkraft wirkt bis in die Gegenwart - wie man jetzt auch beim Modehaus Dior sehen kann

Als Duncan Grant am 21. Januar 1885 und Christian Dior am 21. Januar 1905 das Licht der Welt erblicken, kann niemand ahnen, dass sie eines Tages mehr als nur ihren Geburtstag teilen sollen. Heute findet sich die Arbeit beider Künstler in der kürzlich in Paris gezeigten Spring/Summer 2023 Collection von Dior Hommes wieder, gefiltert durch die Vision des britischen Modedesigners Kim Jones, der seit etwas mehr als vier Jahren als Creative Director bei Dior Hommes tätig ist. "Ich habe Diors und Duncans Arbeit vermutlich zur etwa gleichen Zeit entdeckt. Sie haben mich mein Leben durchweg begleitet und es ist seltsam, dass die beiden Männer, die im Hintergrund meines Lebens waren, nun im Vordergrund stehen."

Kim Niklas Jones, der mit dem 11. September selbst ein gewichtiges Geburtsdatum hat, kam 1979 in Hammersmith, London, zur Welt.  Er wuchs in East Sussex auf, unweit des Charleston Farmhouse, einem Landhaus mit blumenreichem Garten, das Duncan Grants und seiner Künstlerkollegin und engen Vertrauten Vanessa Bells seit 1916 als Zuhause und Studio diente. Die Schwester der Letzteren, Schriftstellerin Virginia Woolf, zitierte Jones bereits in seinem Couture-Debut für das Modehaus Fendi und offenbarte so seine Leidenschaft für die Künstler- und Intellektuellengemeinschaft der Bloomsbury Group und ihre sagenumwobene Residenz. "Ich war zum ersten Mal in Charleston, als ich 14 Jahre alt war. Mir ist damals aufgefallen, wie modern sie alle waren, jeder der an Bloomsbury beteiligten Personen, die mit Charleston verbunden waren. Vor allem, wie sie an einem Ort lebten und arbeiteten und wie intensiv diese Verbindung war", erklärt er.

Die legendäre Gruppe von Künstlern, Kreativen und Schriftstellern, die Anfang des 20. Jahrhunderts in London entstand, wurde Aufgrund ihrer Nähe zu dem Londoner Stadtteil als Bloomsbury Group bekannt. Neben Woolf und ihrem Ehemann Leonard waren auch der Romancier E.M. Forster, der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes, der Kritiker Roger Fry und, nicht zu vergessen, Duncan Grant Teil der Runde, die sich oft ins Charleston House zurückzog. "Manchmal wird die Bloomsbury-Gruppe als eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die in Duncan Grant verliebt sind", sagt Nathaniel Hepburn, Direktor und Hauptgeschäftsführer des Charleston Trust, mit dem Jones für diese Kollektion zusammenarbeitete. "Er war ein sehr schöner Mann und hatte einen Charme, der dazu führte, dass die Menschen ihm sehr nahe standen und ihm gegenüber loyal waren, und seine Liebhaber und Freunde blieben ihm sein ganzes Leben lang treu. Aber er war auch ein schwuler Mann, der zu einer Zeit lebte, als dies in diesem Land kriminalisiert wurde, und er versuchte, ein Leben zu führen, das anders war, das außerhalb der Norm lag", erklärt er weiter.

Outfits für einen Ausflug zum Charleston House

Grant wurde damals schon als einer der führenden britischen Maler angesehen. "Er könnte das lange Zeit gesuchte britische Genie sein", schrieb Vanessa Bell in einem Brief. Obwohl er schwul und sie verheiratet war, hatte Grant mit Bell seine wichtigste und längste Beziehung und sogar eine Tochter, Angelica, die 1918 zur Welt kam – an Weihnachten! Grants Kunst ist im postimpressionistischen Stil gehalten, er hatte eine Vorliebe für männliche Akte, experimentierte mit Textilien, Keramik und Wandmalerei. Von dicken Pinselstrichen und leuchtenden artifiziellen Farben dominiert, zeigen von ihm gemalte Landschaften und Stillleben Ansätze für das Abstrakte, eine zu der Zeit, als Grant nach Charleston kam, erst wenig ausgeprägte Bewegung.

"Wir haben ein paar wenige Teile von Duncans Kunstwerken, die zum Charleston Trust gehören, für die Kollektion ausgesucht", erklärt Jones seine von den Werken des Malers inspirierten Kleidungsstücke. Aufgestickte Bilder aus grobem Strick und Drucke von Grants Malereien wechseln sich mit Outfits ab, die nach einem Ausflug zum im Blumenmeer verweilenden Charleston House schreien. Pastellfarbene Hemden und Blusen, feine Ripp-Tops und kleine Umhängetaschen mit Halterung für die Wasserflasche dürfen auf der Landpartie genau so wenig fehlen wie doppelt geschichtete Shorts, sportliche Rucksäcke, kurze Gummistiefel aus denen rosa Wollsocken schauen, elegante Kopfbedeckungen zwischen Baseballcap und Hut und geblümte Anoraks. Klassische Zweireiher wechseln sich ab mit schürzenähnlichen Umhängetops, mit Zippern verzierten Rollkragenpullovern und fluffigen Teddy-Jacken. Die Wurzeln Christian Diors lassen sich in der rosa-grauen Farbpalette erkennen, die den Rosengarten des Geburtshauses Diors in Granville zitieren sollen – ein Ort, der die Kollektion ebenso beeinflusste wie das Künstlerhaus.

Je länger die Künstler in ihm verweilten, desto mehr wurde Charleston letztlich selbst zu einem Kunstwerk. Elemente des Gartens wurden auf das Interieur, auf Wände und Möbelstücke übertragen. So stammt das übernommene Muster eines abstrakten Seerosenteichs in der aktuellen Kollektion von einem Tisch, den Grant bemalt hatte. "Wir haben uns die Idee der Silhouette angeschaut und die Art, wie er malte", sagt Jones. Das Print-Revival lief verewigt auf Windbreakern und Pullundern zusammen mit ingesamt 52 Looks von der maßstabsgetreuen Rekonstruktion des Granville-Hauses bis hin zum detaillierten Modell von Charleston – eine surreale Kulisse, die die Verbindung zwischen Dior und Duncan unübersehbar machte. "In der Kollektion mischen wir die utilitaristischen, natürlichen und gärtnerischen Elemente mit den stilisierten, luxuriösen, neuartigen Facetten und den Kunstwerken von Duncan Grant, das Öffentliche und Private miteinander", so Kim Jones. "Es geht um den Lauf der Zeit, das wechselnde Wetter und das Licht der Jahreszeiten, auch um Kontinuität, künstlerische Gemeinschaften und das Erbe des Hauses Dior."

Eine künstlerische Gemeinschaft. Als eine Art Symbiose beschreibt Darren Clarke, Leiter der Abteilung Sammlungen und Forschung des Charleston Trust, die Beziehung Kim Jones‘ Beziehung zu Vanessa Bell und Duncan Grant. "Seine Kreativität wird aus der ihren entfacht." Der charismatische Grant soll in seiner Art, sich zu kleiden, sehr modern und seiner Zeit voraus gewesen sein, "sorglos und experimentell", wie es Nathaniel Hepburn beschreibt. Zu einem doppelbemütztem Garten-Anzug mit Fächer hätte er sicher nicht nein gesagt.