Künstlerin Marilyn Minter über Abtreibungsverbote

"Ein Weckruf für eine ganze Generation"

Die US-Künstlerin und Aktivistin Marilyn Minter engagiert sich seit Jahrzehnten für das Recht auf Abtreibung. Ein Gespräch über das Urteil des Supreme Court, Kunst als Protestwerkzeug und die letzten Zuckungen des Patriarchats

Als "Roe gegen Wade" ist ein Urteil des obersten US-Gerichts von 1973 bekannt, das bis vor Kurzem das Recht auf Abtreibung in den USA sichergestellt hatte. Am 24. Juni kippte der heute mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court das Urteil jedoch und hat damit den Weg für strengere Abtreibungsgesetze freigemacht - bis hin zu kompletten Verboten in einigen Bundesstaaten.

Die Künstlerin Marilyn Minter hat sich seit Beginn ihrer Karriere in den 70er-Jahren für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche engagiert und unterstützt NGOs durch Auktionen und Ausstellungen. Wir haben mit ihr über das Supreme-Court-Urteil und die Folgen gesprochen.


Marilyn Minter, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ein. Hätten Sie damit gerechnet, dass Sie 2022 noch – oder wieder – über Abtreibungsverbote reden müssen?

Es ist ein absoluter Schlag in die Magengrube, nicht wahr? Aber ich habe das kommen sehen. Ich habe seit Jahren versucht, die Alarmglocken zu läuten. Ich bin jetzt 73, also eine von denen, die dabei waren, als das Urteil "Roe vs Wade" gefällt wurde. Ich bin eine von denen, die ihre Verhütungsmittel von der Non-Profit-Organisation Planned Parenthood bekommen hat. Ich habe auch eine Abtreibung dort bekommen. Für ein Mädchen aus dem Süden waren sie die Rettung. Ich habe noch erlebt, wie meine Freunde für eine illegale Abtreibung zur "Krankenschwester nach Jacksonville" mussten. Seit zehn Jahren sehe ich, wie dieses Land an "Roe vs Wade" und damit am Recht auf Abtreibung herumnagt. All diese TRAP laws im Süden und im Mittleren Westen. [Unter Targeted Regulations At Abortion Providers (TRAP) versteht man staatliche Auflagen, die Anbietern von Abtreibungen immer höhere Hürden auferlegen, die nicht mit der Sicherheit von Patientinnen begründbar sind, Anmerkung der Redaktion]. Ich habe schon lange mit Planned Parenthood zusammengearbeitet und die Erlöse meiner Arbeit dorthin gespendet. Deshalb habe ich gesehen, wohin die politische Agenda geht.

Haben Sie sich gehört gefühlt?

Nein. Leute haben mich gefragt, warum ich immer noch mit Planned Parenthood arbeite, weil sie nicht aufgepasst haben. Sie dachten, dass "Roe vs Wade" nicht in Gefahr ist. Aber plötzlich war in Mississippi nur noch eine Abtreibungsklinik übrig, was viele Menschen in New York oder Kalifornien nicht wirklich mitbekommen haben. Aber seit den 90ern ist das Thema ein Kernanliegen der Republikaner, und sie generieren ihre Stimmen dadurch. Es gab Leute, meistens in meinem Alter, die aufmerksam wurden, aber jüngere Leute überhaupt nicht, weil sie sich sicher gefühlt haben. Und warum auch nicht? Ich habe das verstanden.  

Und jetzt kam der Weckruf?

Ja, es war ein Schock, auch für mich, obwohl ich damit gerechnet hatte. Plötzlich wird etwas Abstraktes Realität, wie wenn ein Film von Schwarz-Weiß zu Technicolor wechselt. Ich glaube, auch für viele Republikaner war es ein Schock, dass sie tatsächlich damit durchgekommen sind. Aber es ist wie bei einem Hund, der sich mit einem Auto anlegt. Es ist absolut ausgeschlossen, dass die jungen Menschen das tolerieren werden. Es war ein Weckruf für eine ganze Generation. So ekelhaft wie das klingt, vielleicht ist das das Gute daran.

Was glauben Sie, wird passieren?

Es wird eine massive politische Mobilisierung geben, das kann man jetzt schon sehen. Es gibt wundervolle Frauen in meinem Alter, die women of color und junge Mädchen – die durch Verbote am härtesten getroffen werden - an Orte bringen, wo sie eine Abtreibung bekommen können. Sie erzählen mir, dass sich ihre Töchter jetzt auch engagieren, obwohl sie vorher mit dem Thema wenig befasst waren. Es gibt Untergrundnetzwerke, wie eine Underground Railroad für Abtreibungen. Unser aller Job ist es jetzt, die Republikaner los zu werden. Sie werden nicht wissen, wie ihnen geschieht.

Joe Biden hat angekündigt, dass er das landesweite Recht auf Abtreibung als Gesetz verankern will. Halten Sie das für realistisch?

Dazu braucht er noch zwei demokratische Senatoren im Senat – und das muss jetzt unser Lebensziel sein: Bei den Zwischenwahlen im November, bei denen ein neuer Kongress und Teile des Senats gewählt werden, die Republikaner loszuwerden. Es wird nicht einfach, aber es muss passieren, sonst werden weitere Desaster folgen.

Welche Rolle kann Kunst in dieser Situation spielen?

Ich sehe Kunst als Werkzeug, um Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel zu generieren. Unsere Werke zur Verfügung stellen und andere Künstlerinnen und Künstler an Bord holen – das ist das, was wir tun können. Ich habe so ziemlich alle, die ich kenne, nach Kunstwerken gefragt, um Fundraising zu betreiben und Organisationen zu unterstützen, die ich für wichtig halte. Ich habe mein Kapital in der Hinsicht langsam aufgebraucht. Aber andere Leute können das tun. Diesmal muss es vielleicht nicht Ich sein – obwohl ich bestimmt nicht untätig bleiben werde.

Haben Sie Ihre Kunst auch jenseits von dieser Werkzeug-Funktion als politisch gesehen? Oft geht es darin ja um Körper und ihre gesellschaftliche Rolle.

In gewisser Hinsicht ist Kunst immer politisch, aber ich habe mich nicht als politische Künstlerin gesehen. Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die Dinge in ihrer Arbeit auf geniale Weise auf den Punkt bringen. Barbara Kruger zum Beispiel. "Your Body Is A Battleground"- wie könnte man es besser sagen? Oder Jenny Holzer und Kara Walker. Deren Arbeit ist zu 90 Prozent politisch. So sehe ich mich nicht. Ich bin eine Künstlerin, die zufällig auch eine Aktivistin ist.

Heute findet ein Großteil des Protests über Social Media statt, auch Bilder verbreiten sich viel leichter. Hätten Sie Instagram gern schon vor 50 Jahren gehabt?

Desinformation verbreitet sich auch viel leichter, also ist es eine zwiespältige Sache. Ich war eine Absolutistin für das Recht auf Redefreiheit, aber inzwischen denke ich, dass man irgendwie die Fake News begrenzen muss. Es muss doch einen gewissen Anteil von Wahrheit in dieser Welt geben. Ich benutze Instagram und sehe den Vorteil, viele Leute zu erreichen, aber wie jede Form von Fortschritt hat es gute und schlechte Seiten.

In Bundesstaaten, die Abtreibungen verbieten, könnten Daten aus Zyklus-Apps genutzt werden, um zu verfolgen, wer eine Schwangerschaft abgebrochen hat …  

Ich finde, diese furchtbaren Seiten des technischen Fortschritts muss man klarer benennen. Wenn wir eine Sprache dafür haben, wird es leichter, zu handeln. Ich habe das Gefühl, dass das Bewusstsein dafür gerade steigt.

Sie haben in einem Kommentar geschrieben, es sei jetzt wichtig, wütend zu bleiben. Fühlen Sie ab und zu auch ein wenig Resignation, weil scheinbar die Zeit zurückgedreht wird?

Nein, nein und nochmals nein. Wir haben riesige Fortschritte gemacht. Es gibt inzwischen medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche, die man selbst mit Tabletten durchführen kann. Was wir erleben, ist das letzte Zucken des Patriarchats, und ich bin sicher, dass wir diese politischen Strömungen ein für alle Mal beenden werden. Es ist wie bei Trump, wo alle dachten, dass es solche Figuren gar nicht mehr gibt. Es ist das Vermächtnis der Boomer, genau wie die katastrophale Klimapolitik. Meine Generation muss verdammt nochmal endlich aussterben.