Richard Artschwager ist das Vorbild für Heerscharen junger Künstler: Seit 50 Jahren verwirrt der Amerikaner Wahrheitssucher und Kunstgeschichtler mit skeptischen Werken. Monopol hat den großen alten Mann in seinem Gotteshaus nördlich von New York besucht.
Der Zweifel springt einen an, wenn man auf der Couch sitzt und Fernsehen schaut. Wenn das Licht sich draußen seltsam verändert, wenn den Büchern, die sich hoch, wacklig und schief auf dem Fernseher stapeln, plötzlich etwas Dämonisches anhaftet. Weil sie eine eigene, unbekannte Existenz besitzen und daran erinnern, dass man selbst existiert.
„In den letzten Tagen habe ich viel nachgedacht“, sagt Richard Artschwager und schaut sich im Raum um. Da ist dieses Regal voll mit Katalogen, auch mit zahlreichen Bänden über Artschwager und seine Kunst. Da ist die Couch, der Fernseher und der Bücherstapel. „Da ist Unordnung … Dort ist Ordnung“, sagt der Künstler, der zeit seines Lebens über das Wesen der Dinge und ihre Beziehung zum Betrachter nachgedacht hat. „Je länger man lebt, desto weniger kann man seine Persönlichkeit zurücknehmen. Ich bin wie … eingeschlossen darin.“
Das sagt jemand, der der Kunstgeschichtsschreibung immer einen Winkelzug voraus war, der stets neue Seitenwege eingeschlagen hat. Nie wusste man ihn recht einzusortieren in das 20. Jahrhundert: Ist seine Kunst nun Pop-, Minimal oder gar Concept-Art? Der heute 84-Jährige hat seine Skulpturen mit gemaserten Schichtstoffplatten verkleidet, und überhaupt ist das Verkleiden seine künstlerische Strategie. „Was ist Identität und Persönlichkeit, und wie funktioniert ihre bildnerische Repräsentation?“ fragt er mit seinen Arbeiten.
Auch sonst ist der Bildhauer, Zeichner, Maler, der schon als Soldat, Spion, Tischler, Wissenschaftler, Elektriker und Babyfotograf gearbeitet hat, bislang strengen Festlegungen aus dem Weg gegangen. So gut es eben ging.
Nun sitzt er auf der Couch, in einem kleine Raum neben dem ehemaligen Gottesdienstsaal. Der Künstler, dessen liebster Gegenstand der Zweifel ist, wohnt in einer Kirche. Er hebt den Arm, zeigt in eine Ecke und sagt: „Wenn Sie sich mal gruseln wollen, kommen Sie nachts vorbei, schauen Sie sich den Bücherstapel an, wie er da schief auf dem Fernseher steht.“
Artschwager lebt in einer aufgelassenen Kirche
Lange lebte Richard Artschwager in Brooklyn. Um ihn heute zu besuchen, muss man New York in Richtung Norden verlassen. Man fährt zwei Stunden mit der Bahn den Hudson River entlang, an der Zweigstelle der Dia Art Foundation in Beacon vorbei. Sumpflöcher, Industriebrachen, Steinbrüche und Felsen, an denen tiefe Wolken hängen, bestimmen das Bild, und der Fluss wird breit und breiter. Dieses stimmungsreiche Hudson Valley zieht die Heroen der US-Kunst an: Auch Ellsworth Kelly, Brice Marden und Richard Prince arbeiten hier.
Die breiten, hügeligen Straßen der kleinen Walfängerstadt Hudson werden von ein paar Jeeps befahren, viel ist hier nicht los. Ein wenig außerhalb des Orts steht die stillgelegte Methodistenkirche neben gewöhnlichen Vorortshäusern. Aus dem einschiffigen Holzgebäude ist ein heimeliges Zuhause geworden. Warm fällt das Licht in den großen Saal und setzt die riesigen, fellbespannten Stühle in Szene. Oder sind es doch Skulpturen? Der Künstler stellt sie seit 1965 unter dem Serientitel „Chair“ aus. Artschwager hat Möbel als Kunst präsentiert – funktionales Interieur als funktionslose Kunst –, und nun benutzt er seine Kunst wieder als Möbel. Schon ist der Besucher mitten im Artschwager-Zweifel, der den Dingen ihren festgelegten Platz in der Welt raubt.
An einer Wand steht die Arbeit „Group of Crates“ (1993), die dort kaum auffällt, weil sie als Anrichte benutzt wird. Es sind drei Kisten, eine T-förmig, die anderen beiden in der Form eines Stuhls. Es könnte sich um eine Verpackung handeln. „Darin ist aber nur Staub“, sagt Ann Artschwager, die vierte Frau des Künstlers. Ähnlich sahen in den sechziger Jahren die ersten Skulpturen ihres Mannes aus: Kisten, auf die farbiger Kunststoff geklebt war, der eine Tischdecke, Tischbeine und den leeren Raum unter der imaginierten Tischplatte darstellte. Eine Provokation zu einer Zeit, als allenthalben die Strenge der Minimal Art gefeiert wurde.
Der gemaserte Perserkater Georgie schleicht umher, und – inzwischen artschwagerhaft gestimmt – muss man an diese Dinger denken, die als schwarze, längliche Verdichtungen von Informationen, als eine Art Pixel, in vielen Ausstellungen Richard Artschwagers in Ecken, an Wänden, auf Scheiben kleben. Der Künstler wollte Schrift in den Raum holen und fing bei ihrem kleinsten Element an, dem Punkt.
Vergrößert auf die Wand gemalt oder als Holzstück aufgehängt, in die Länge gezogen und in den Raum geholt, verwandelte sich Schriftbild zum Bild.
Formica als Medium
Artschwager nannte diese Dinger „Blps“ – nach den Punkten auf einem Radarschirm, die „blips“ heißen –, seit 50 Jahren verbreitet er sie. Eine Art Signatur. Seine erste Ausstellung in Europa, 1968 bei Konrad Fischer in Düsseldorf, bestand nur aus „Blps“. Hier, in Hudson, hängt eine borstige Kunststoffversion. Und Georgie, das könnte doch auch ein Bild, eine Ansammlung von Information sein?
Eine Kirche dem Zweifel. Richard Artschwager, der sein Atelier ein paar Meilen entfernt in einer Wellblechhalle untergebracht hat, sitzt nun in der kleinen Küche, in der die Methodisten gern Scrabble spielten. „Die Arbeitsoberfläche neben dem Herd, das ist möglicherweise ‚Formica‘“, sagt der Künstler, der diesem Material einen sicheren Platz in der Kunstgeschichte geschenkt hat. „Formica“ ist ein Markenname; in Deutschland gibt es einen ähnlichen Stoff unter der Bezeichnung „Resopal“. „Ich habe es als eine Art Collage-Element gesehen“, sagt Artschwager. Mit den bildnerischen Möglichkeiten dieses Werkstoffs experimentiert er seit 1963: Er beklebte Bilderrahmen, Skulpturen, Gemälde damit – und hat so aus Skulpturen Bilder gemacht und aus Bildern Skulpturen.
Als Künstler habe er sich umgesehen, gibt Artschwanger zu, welche Territorien noch nicht belegt gewesen seien, als der abstrakte Expressionismus noch die Szene dominiert habe. Der Tischler Artschwager begeisterte sich für den Impressionismus. Er habe Cézannes „Blick auf den Mont Saint-Victoire“ gesehen, und – „Donnerwetter!“ – der Berg sei ihm wirklicher vorgekommen als die Wirklichkeit. Da habe er gelernt: „Man kann ein Bild sehen, aber genauso gut in ihm sein.“ Diese Gleichzeitigkeit von Zwei- und Dreidimensionalität zu begreifen habe geholfen, Kunst zu verstehen und Kunst zu machen.
Kindheit in Deutschland
Artschwager freut sich, wenn er deutsch sprechen kann. Das deutsche „Donnerwetter!“ kommt überraschend in einem amerikanischen Satz, tatsächlich wie ein Donner. Der Kater Georgie erbricht sich in der Küche, Artschwager kommentiert es mit einem deutschen „Pfui, der Teufel!“; es klingt so schneidig wie aus dem Mund eines alten Haudegens in einem sehr alten Film.
Der Künstler wurde 1923 als Sohn deutsch-russischer Einwanderer in Washington geboren, mit acht Jahren ging er ein Jahr lang in München zur Schule. Doch sein Zuhause, das sei heute noch das wilde New Mexico, wo er die meiste Zeit als Kind verbrachte.
Mit guten Deutschkenntnissen meldete er sich 1942 freiwillig zum Einsatz in Europa, betätigte sich erst als Artillerist, dann arbeitete er für den Militärnachrichtendienst. Nach dem Krieg lebte er in Wien, dort lernte er auch seine spätere Frau Elfriede kennen. Artschwager seufzt, als er den Namen ausspricht. Ohne diese Elfriede Wejmelka wäre er wohl kein Künstler geworden. In New York fuhr der Veteran mit einem naturwissenschaftlichen Studium fort – doch Elfriede wusste es besser: „Du hast nicht das Temperament eines Wissenschaftlers. Du solltest Kunst machen.“ Und ihr Mann sagte sofort ja. „Das war eine Entscheidung in einer Sekunde“, erinnert er sich, „doch in der folgenden Nacht konnte ich nicht schlafen und dachte immer nur: ,Verdammt, worauf habe ich mich eingelassen!‘ Es war, als stürzte man von einer Klippe. Wie wird man denn Künstler? Die Antwort darauf habe ich bald gefunden. Sie lautet: Wir werden sehen.“ Er meint es buchstäblich, dieses Sehen.
Kunst machen heißt für Artschwager heute noch: immer empfänglich sein für jede kleine Regung, für diesen speziellen Moment. „Kunst ist Schauen.“ Wir wissen nicht, welche Leistungen dieser Mann als Naturwissenschaftler vollbracht hätte, aber die Kunstwelt kann der jung gestorbenen Elfriede dankbar sein. Zu Beginn arbeitete Artschwager nebenher als Künstler, während er sein Geld seit 1953 als Tischler im eigenen Betrieb verdiente. 1958 brannte die Werkstatt ab. Das sei wie ein zweiter Hinweis gewesen, es mit der Kunst ernst zu nehmen. 1959 hatte er seine erste, kleine Galerieausstellung, sechs Jahre später präsentierte ihn der immer neugierige Leo Castelli, der schon Jasper Johns und Robert Rauschenberg groß herausgebracht hatte. Der Plan ging auf.
Anfang der sechziger Jahre zeichnete Artschwager aus dem Immobilienteil der Zeitung Häuser ab. Diese Zeichnungen übertrug er mit Acryl auf „Celotex“, das ist der Markenname für eine Spanplatte aus Zuckerrohrfasern. Die raue Struktur des „Celotex“ entsprach in einem anderen Maßstab derjenigen des Papiers. Das Resultat verblüfft: Der Verfremdungseffekt gibt den Häusern etwas Unheimliches, etwas Surreales.
„Celotex“ wurde neben „Formica“ der wichtigste Rohstoff für Richard Artschwager. Er malte darauf Mörder, Terroristen, Präsidenten, es ist, als hätte Artschwager ihre Persönlichkeiten noch einmal in ein anderes, völlig unbekanntes Medium gebracht, in dem sie ihr „wahres“ Wesen endgültig dem Betrachter verschließen.
Redet Artschwager über seine Arbeiten, versucht er, seine Sätze so präzise wie möglich zu formulieren. Er macht lange Pause beim Sprechen. Er greift nach Sachen auf dem Schreibtisch, wenn er nach Worten sucht. Er stöhnt vor Anstrengung. Als dächte er ganz neu über Fragen nach, die doch 50 Jahre Künstlerarbeit bestimmt haben: Wo endet ein Bild? Wie kann ein Gegenstand gleichzeitig ein Bild sein? Wie geht das: Ich betrachte ein Bild und bewege mich im Bildraum – und doch ist das Bild als Objekt mit mir im realen Raum? Warum kommen sich diese beiden Qualitäten nicht in die Quere? Richard Artschwager hat Freude an paradoxen Schleifen, aber auch seine Qual mit ihnen. Immer wieder streift er Erkenntnistheorie, Ontologie, Konstruktivismus, Skeptizismus. Dabei entstehen auch Aussagen wie: „Du schaust eine Sache an, und diese Sache ist selbst wieder ein Instrument, das dich in die Lage versetzt, überhaupt zu sehen.“
Der Witz der Artschwager-Arbeiten besteht darin, dass er theoretische Fragen an Gegenständen abhandelt, die stets herhalten mussten für philosophische Probleme. Seit der irische Empirist George Berkeley im 18. Jahrhundert skeptisch gefragt hatte, ob der Arbeitstisch des Philosophen verschwände, wenn er die Augen schließe, dient der Tisch als elementarstes Erkenntnismodell in jedem Proseminar. Weil er eben immer gerade in Sichtweite steht.
„Widersprüche sind kein Problem“
Das Verhältnis von Bild und Bildträger, von Vorstellung und dem materiellen Auslöser der Vorstellung, von Zwei- und Dreidimensionalität: Das interessiert Richard Artschwager. Deshalb bewegt sich seine Kunst zwischen Malerei und Skulptur: Malerei auf dem haptischen „Celotex“, Möbel, mit Maserung bemalt, Malerei, die mit „Formica“ beklebt ist. Die frühe Arbeit „Portrait I“ (1962), die sich in der Sammlung Kasper Königs, Direktor des Kölner Museum Ludwig befindet, stößt den Betrachter mit der Nase auf das Grunddilemma Artschwagers: Da steht ein Männerporträt, gemalt auf „Celotex“, auf einer Kommode, die wiederum mit Pseudomaserung verziert ist. Das Bild wird als Objekt erkennbar, das Möbel als Bild. Kasper König, der Richard Artschwager kennenlernte, als dieser noch als Tischler arbeitete, entdeckte in dieser Arbeit den Witz des Künstlers: „Es ist dieses Kombinieren und Verschränken von unterschiedlichen Materialien, Techniken und künstlerischen Mitteln, das ist etwas, das als Momentum in den unterschiedlichsten Werkgruppen von Artschwager immer wieder aufkommt. Sagen wir mal, es ist so wie bei großen Komikern – vielleicht wie bei dem Größten für mich, Buster Keaton. Es gibt immer wieder ein Momentum, das könnte nur Buster Keaton bringen, und dennoch ist es absolut allgemeingültig.“
Im selben Jahr, in dem auch „Portrait I“ entstand, baute Richard Artschwager „Handle“: ein Griff, ein zu einem Rechteck gebogenes Rohr, das an der Wand befes tigt ist, aber von ihr absteht. Ein Rätsel. Die Arbeit zitiert sich selbst als reine Repräsentation, denn sie ist zugleich ein Bild, ein Rahmen und ein funktionaler Gegenstand. „Widersprüche sind kein Problem“, sagt Richard Artschwager, „denn wir haben es mit bildender Kunst zu tun und nicht mit Sprache.“ Das sei das Schöne an Kunst: Anstatt sich gegenseitig auszulöschen, fütterten sich die Widersprüche.
Der einstige Babyfotograf lobt die Neugierde des Kleinkinds. Das sehe noch das Potential in den Dingen, ertrage Gegensätze. Doch die Neugierde des Kinds verschwindet, und es wird schwerer, wirklich zu schauen, zu greifen, zu begreifen. „Jeder Tag ist derselbe, jeder Tag ist auch anders. Die Möglichkeiten bleiben, es fällt einem was ein“, sagt Richard Artschwager auf Deutsch. Und er ergänzt zögernd: „Ich habe nie Angst gehabt, dass mir die Ideen ausgehen.“ Dann lacht er aber, als wollte er diesen Satz gleich wieder zurücknehmen.