Man kann nicht behaupten, Brion Gysin hätte zu wenig für seinen Nachruhm getan. Der Nomade und Beatnik war überall vorne mit dabei: im Paris der 1930er-Jahre, wo er sich mit den Surrealisten anlegte, in Marokko, in dem von ihm gegründeten Café 1001 Nights (das er aufgeben musste, weil seine Angestellten ihn angeblich verhexten), im Paris Ende der 1950er-Jahre im Beat-Hotel, wo Gysin gemeinsam mit William S. Burroughs und Ian Sommerville die "Dreamachine" erfand, einen drehbaren Hohlzylinder, der psychedelische Flacker-Effekte verursachte.
Gysins Vision war es, mit der "Dreamachine" einen Ersatz für das passive Wahrnehmen von Massenmedien zu schaffen und stattdessen die Kreativität anzuregen, um eigene Kino-Erlebnisse in den Köpfen von Menschen zu erzeugen. Der Apparat sendet Lichtwellen zwischen 8 und 13 Hertz in die Augen des aussteigewilligen Betrachters, das soll dem Rhythmus der Alphawellen im Gehirn entsprechen und diese in der Meditation und Tagträumen aktiven Hirnwellen stimulieren.
Überhaupt verbrachte man seine Nächte damals in der Rue Gît-le-Coeur. Für einige Minuten soll Gysin sich dort auch vor den Augen anderer in Luft aufgelöst haben. Eigentlich nannten alle den Schriftsteller Burroughs "El Hombre Invisible", aber auf Brion Gysin, den in England geborenen Sohn eines Schweizers und einer Kanadierin, trifft dieser Beiname eher zu: Der Dichter und Künstler hat zwar Eindruck hinterlassen, etwa auf Max Ernst, David Bowie, Keith Haring oder Iggy Pop – alles bekennende Gysin-Jünger –, doch ihm wurde nie die gleiche Würdigung zuteil wie seinen Wegbegleitern. Ungerecht: Brion Gysin erfand das cut-up, Burroughs wurde mit dieser literarischen Technik berühmt.
"Vielleicht nickt man auch ein"
Die "Dreamachine" immerhin tauchte in den letzten Jahrzehnten hier und da immer wieder auf. 2010 widmet etwa das New Museum in New York dem 1986 verarmt gestorbenen Gysin eine Einzelschau. 2019 zeigte die Bartha-Galerie in Basel eine Ausstellung mit dem Titel "The Dreamachine" mit Prototypen dieser "Traumapparaturen". Im vergangenen Jahr baute der Berliner Künstler Julian Charrière eine eigene Version und stellte sie in Berlin aus. Und jetzt geht die "Dreamachine" auf große Tournee.
Ein Team aus Architekten, Neurowissenschaftlern, Philosophen, Technologie-Experten und Musikern - darunter der Komponist Jon Hopkins - hat das Projekt, das von verschiedenen Sound- und Lichteffekten lebt, nun publikumsreif gemacht. "Jede Erfahrung in der Dreamachine ist völlig individuell", heißt es auf der Internetseite des Projekts. "Es kann sich anfühlen wie eine Achterbahnfahrt, eine Reise durch Zeit und Raum, oder vielleicht nickt man auch ein."
Seit dem 10. Mai können Besucherinnen und Besucher Plätze buchen für das nach Veranstalterangaben "erste Kunstwerk, das man mit geschlossenen Augen erleben kann" - zunächst in London, später auch in anderen britischen Städten wie Cardiff und Edinburgh. Das Projekt, bei dem sich die Anwesenden auch über ihre Erfahrungen austauschen können, ist Teil des "Unboxed"-Festivals, zu dem in diesem Jahr über das Vereinigte Königreich hinweg verschiedene Kunstprojekte gehören.
(Mit Dpa-Quellmaterial)